Hakan Gürses
»Ich bin Niemand«
(...)
Die Identitätsfrage
Wann stellt sich die Identitätsfrage? Zum Beispiel auf Reisen; auch Odysseus mußte während einer Reise Niemand heißen. Heute sieht die Lage allerdings etwas anders aus, die Kyklopen wurden inzwischen von Computern ersetzt, und keiner fragt uns an einer Grenze zuerst danach, wie wir heißen. Nicht von ungefähr schrieb einst Brecht: »Der Paß ist der edelste Teil des Menschen«; der Paß (oder ein äquivalenter Ausweis) ist alles bei einer Reise, er enthält vordergründig alles, was wir als »explizite Bausteine einer Identität« bezeichnen können: Nationalität, Beruf, Wohnort, Geschlecht – und den Namen. Aber niemand, weder ein Computer noch ein Zöllner, kümmert sich um den Namen, wenn er schon die anderen identifizierenden Daten zur Verfügung hat; der Name ist bloß der Kulminationspunkt dieser Daten, ohne Bedeutung, aus reinem Zufall, etwa durch eine Nummer ersetzbar.

Es sei denn, der Reisende heißt Kemal Ozgür und ist österreichischer Staatsbürger. Da bekommt der Name des Individuums plötzlich einen Wert der Signifikanz. Der Einreisewillige ist zwar österreichischer Staatsbürger, war aber wahrscheinlich nicht immer schon Österreicher. Er ist zwar Österreicher, aber eigentlich ein Türke. (Ich bin froh, daß in europäischen Pässen keine Konfessionsbezeichnung drinsteht.) Diese »ethnische« Feststellung kann längere Wartezeiten, eine strengere Durchsuchung, die auch gewisse Körperteile nicht ausschließt, sowie eine Reihe von die Zukunft betreffenden Fragen nach sich ziehen – von der Art: »Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?« etc. In so einem Fall wäre Kemal froh, denke ich, würde er von Geburt an Franz Meier heißen.

Nun gibt es, gerade in Osterreich, eine große Anzahl von Menschen, die sich nicht nur nicht davor scheuen, sondern auch darauf stolz sind, nicht Franz, sondern Franjo, und nicht Meier, sondern Grandits zu heißen. Jetzt wird aber niemand von den hier Anwesenden ernsthaft behaupten wollen, diese Menschen hätten eines Tages plötzlich entdeckt, daß sie nicht-deutsche Namen tragen und daher eine ethnische Minderheit darstellen müssen. Wir wissen, daß sie nicht eine nominative Minderheit bilden. Auch den Grenzbeamten interessiert nicht das Exotische an dem Namen, sondern seine identikative Konnotation. Wir ahnen: Sowohl an der Grenze, wo der gebürtige Türke seinen österreichischen Reisepaß halbherzig herzeigt, als auch innerhalb der österreichischen Grenzen, wo Franjo Grandits seinen Namen mit Stolz trägt, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, gibt es etwas, was vor diesen Namen stehen und sogar, in manchen Fällen, die Namensgebung mitbestimmt haben muß. Es ist die Identität.
Die Ansprache
Es handelt sich auch bei der Identität um eine Frage, auf die eine Antwort folgt – so wie im Dialog zwischen Odysseus und Polyphemos bzw. diesem und den anderen Riesen. Mit einem Unterschied: Die Frage nach dem Namen und die darauffolgende Antwort sind von einer anderen Art als die Frage nach der Identität und deren Beantwortung. Mit einem weiteren Beispiel möchte ich diesen Unterschied verdeutlichen.

An jedem Nationalfeiertag spricht der Bundespräsident traditionsgemäß seine Staatsbürgerinnen an: »Liebe Österreicherinnen, hebe Österreicher!« Nicht alle, die vorm Fernseher dem Staatsoberhaupt gegenübersitzen, nehmen diese Anrufung gleichermaßen auf sich: z. B. ich nicht, da ich kein österreichischer Staatsbürger bin. Da gibt es eine weitere Gruppe von Zuschauern, die sich zwar mit diesem Vokativ identifizieren kann, aber etwa mit der Monolingualität der Ansprache nicht einverstanden ist. Für sie ist die Identifikation mit dem Großsubjekt »Österreicherinnen« ein komplizierteres Verfahren, da sie beispielsweise auch auf den Vokativ »Kroatischsprechende« hört – zwar auf eine andere Weise, aber doch. Schließlich gibt es die Gruppe von Leuten, die auf die Ansprache des Bundespräsidenten mit einem inneren – nicht laut ausgesprochenen – »Ja!« reagiert. Diese ist auch die ideale Zielgruppe bzw. der »Maßstab« des präsidialen Vokativs.

Wir sehen, die Anrede des Bundespräsidenten beruht nicht auf Neugier oder Kontaktfreudigkeit (»Wie heißt du?«), obwohl sie durchaus eine unausgesprochene Frage impliziert – eine Anrufung, die auf eine Antwort abzielt, aber eine andere Art von Antwort: Odysseus oder Österreicher zu heißen bzw. zu sein, gehören nicht der gleichen Ordnung an. Wir befinden uns im Kern der Identitätsfrage. Die Antwort von Odysseus, sein Name sei Niemand, hat einen Leerlauf zur Folge: Obwohl ein Name, bewirkt diese Antwort eine Tautologie; sie ist, um mit Wittgenstein zu reden, »ein Satz der Logik«.(3) Just dies ist bezüglich der Identität nicht möglich. Es gibt keine leere Identität, kein »Niemand« als Antwort auf die Identitätsfrage. Sie ist eine selektierende Fragestellung, da die Antwort darauf gleichsam ein persönliches und objektives Gebilde darstellt. Dies rührt daher, daß das, was wir in diesem Kontext unter Identität verstehen, nichts Individuelles, sondern eine Gruppenzugehöngkeit subsumiert.

Sehen wir uns die Struktur und die Funktion der Identität nun näher an.(4) Ich möchte vier Merkmale aufzählen, die aber nicht als statische oder metahistorische Eigenschaften der Identität zu verstehen sind. Vielmehr handelt es sich um die hypothetische Wiedergabe von Beobachtungen, die sich auf die Gegenwart beziehen und die dem Umfeld des Mehrheit-Minderheit-Verhältnisses entnommen sind.

Identitäten sind
1. subjekt-bezogen und zugleich »objektiv«;
2. »provoziert« (eingebettet in eine Dialektik der Vokative und der Antworten);
3. relational;
4. vielfältig (»multiple Identitäten«) und zugleich hierarchisch angeordnet.

Damit das Schematische nicht überhand nimmt, werde ich im folgenden versuchen, diese Merkmale im Rahmen eines Modells – und nicht im einzelnen – zu erörtern.
Das Modell der Kodifizierungen
Wie entsteht eine kollektive Identität? Ohne Zweifel ist ihre Genese historisch zu untersuchen, da sich jedes Kollektiv, auch eine bestimmte Nation, durch historisch bedingte Spezifika von anderen unterscheidet. Wir reden aber etwa von »nationaler Identität« auch als Kategorie, da wir an alle national zu unterscheidenden Entitäten dieselben Fragen stellen, die verschieden erwidert werden: Sprache, geographischer und politischer Raum, Staatsform, kulturelle Eigentümlichkeiten ... Es muß also eine allen kollektiven Identitäten zugrundeliegende Grundstruktur geben, deren konkrete Verformungen die variierenden Identitäten ergeben. Um die Frage nach der »Struktur« der kollektiven Identitäten halbwegs plausibel beantworten zu können, möchte ich zwei verschiedene theoretische Figurationen bemühen, die zu unterschiedlichen Zwecken entworfen wurden: die Mikromacht (Michel Foucault) und die Anrufung (Louis Althusser). (5)
Foucault spricht von der »Allgegenwärtigkeit« der Macht, die sich »in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt« erzeugt.(6) Diese punktuellen Machtquellen, »Mikromächte«, sind in jedem Augenblick präsent, und keine von ihnen zeichnet sich durch irgendwelche Eigenschaften als ewig bevorzugte »Machtbasis« aus. »Die vielfältigen Kräfteverhältnisse«, als welche Foucault die Macht umschreibt, dienen als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spaltungen. »Diese bilden dann eine große Kraftlinie, die die lokalen Konfrontationen durchkreuzt und verbindet — aber umgekehrt bei diesen auch Neuverteilungen, Angleichungen, Homogenisierungen, Senahsierungen und Konvergenzen herbeiführen kann.«(7)

Analog zu diesem Modell sind auch die »Identitätsquellen« zu verstehen: In jeder Gesellschaft können wir lose Naheverhältnisse von Individuen beobachten, die auf Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit ihrer Eigenschaften, Tendenzen, Fähigkeiten, Talente etc. zurückzuführen sind – ebenso aber diesbezügliche Unterschiede und darauf beruhende interindividuelle Dissensmomente. An sich, in diesem losen, »natürlichen« Zustand, bilden Kohärenz oder Differenz von Individuen zunächst keine Gruppen und haben auch noch keine Identitäten zur Folge. Mit anderen Worten: Sie setzen noch keine deutlich abgeschotteten, undurchlässigen Grenzen voraus. Dazu bedarf es einer auswertenden und einbindenden Achse, die die Gesellschaft durchkreuzt und Grenzen zieht. Erst die Kodifizierung der Identitätsquellen ist es also, die kollektive Identitäten und somit die Gruppenbildungen erzeugt.

Wie aber geschieht diese Kodifizierung ihrerseits? Louis Althusser warf die These auf, daß es Ideologie nur »durch das Subjekt und für Subjekte« geben kann.(8) Gemeint ist einerseits die konstitutive Rolle des Subjekts für jede Ideologie: Ohne Subjekte kann sie nicht funktionieren. Andererseits hat jede Ideologie ihrerseits die (sie definierende) Funktion, konkrete Individuen zu Subjekten zu konstituieren. Diese Dialektik wird in dem Vorgang deutlich, dem Althusser eine zentrale Bedeutung attestiert: »Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.«(9)

Die Anrufung (interpellation) funktioniert durch Wiedererkennung/Anerkennung (reconnaissance) und »rekrutiert« aus der Masse der Individuen Subjekte, mit anderen Worten: sie »transformiert« die Individuen in Subjekte. Das »angerufene« Individuum erkennt an, daß es »gerade es ist«, an das sich der Anruf richtet, und reagiert auf die Anrufung mit deren Anerkennung. Dieser Vorgang setzt aber die Existenz eines anderen, einzigen und zentralen Subjekts voraus, das Althusser großschreibt. Besonders deutlich wird die Rolle dieses SUBJEKTS im französischen Wortspiel »assujettir«, das »zum Subjekt machen« ebenso impliziert wie »unterwerfen«: Das Individuum wird durch die Anrufung zum Subjekt gemacht, das dem SUBJEKT unterworfen ist, »Subjekt durch das SUBJEKT und dem SUBJEKT unterworfen (assujetti)«(10). Da die Erkennung des »Selbst« als Subjekt nur durch diese Unterwerfung möglich ist, ist auch die Anerkennung der Unterwerfung eine freie, d. h. ungezwungene. Daher funktionieren die Subjekte und somit dieses System »ganz von alleine«.
Analog zu den Ideologien funktioniert die Kodifizierung der Identitätsquellen, von denen ich bereits gesprochen habe. Die Anrufungen, die um bestimmte »thematische« Achsen geschehen, werten die Differenzen bzw. Konvergenzen oder Kohärenzen aus und binden sie an große »Kraftlinien«. Dadurch wird es möglich, daß sich einzelne Personen nicht nur als Mitglieder einer Gruppe, einer Korporation oder einer Gemeinschaft wahrnehmen, sondern auch in der groß geschriebenen Zentral-IDENTITÄT (wieder-)erkennen. Diese ist ein Vokativ und zugleich ein Konglomerat von verschiedensten konstitutiven/definierenden Eigenschaften, Merkmalen etc.
Mehrheit/Minderheit
So erzeugt der Vokativ »Osterreicherinnen«, vom Bundespräsidenten ausgesprochen, eine Gruppe von Subjekten, die das Zentrum bildet. Ich befinde mich, im Moment der Anrufung, nicht in dieser Gruppe, denn diese Anrufung kann mich nicht rekrutieren (aus »objektiven« Gründen). Sie kann mich aber sehr wohl »provozieren«, d. h. mich durch ihre selektierende Funktion einer anderen Gruppe zuordnen: Also befinde ich mich an der Peripherie.

Die Anrufungen geschehen auch ohne den Präsidenten und sind stets präsent in der Gesellschaft. Zentrum und Peripherie begegnen uns im politischen Alltag oft unter anderen Namen – manchmal auch als Mehrheit und Minderheit.

Wir sehen, daß die Identitäten keine statischen, ein für allemal gegebenen Auszeichnungen sind, sondern relationale Identifikationen mit einem ebenso relationalen Zentrum bzw. einer Peripherie. Wenn die Anrufung die Nation anspricht, bildet sie im selben Akt auch ihr Gegenstück. Die Kategorien Ethnie und Nation stehen nicht, wie die Modernisierungstheorie behauptet, in einem chronologischen »Werdungsprozeß« wie Affe und Mensch zueinander. Auch Nation ist ein Konstrukt, das um die Achse der Ethnizität entsteht. Nation und Ethnie sind die Janusköpfe, auf denen der Nationalstaat beruht. Die konstitutiven Elemente nationaler Anrufung sind sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit, kulturspezifi-sche psychische Eigenschaften, territoriale Einheit, eine Geschichte der Nationwerdung. Deswegen sammeln sich diejenigen, welche die nationale Anrufung nicht rekrutiert, um andere identifikative Eckpfeiler: eigenes Volkstum, kulturelles Selbstverständnis, autochthone Verbindung zum Territorium, die Bemühung um Sprach- und Kulturerhalt, die Gefährdung durch Assimilation etc.

Modifizieren wir nun unser Beispiel. Wenn ein um die Moral und um die zurückgehenden Geburtenraten besorgter Politiker in seiner Fernsehrede die »lieben heterosexuellen Männer und Frauen« anspricht, wechseln die Rollen.« (11) Ich befinde mich, gemeinsam mit Österreicherinnen, in einer Gruppe, die diesmal die Mehrheit darstellt, während ein Österreicher, der sich der »deutschen Kulturgemeinschaft« zugehörig fühlt und gleichsam homosexuell liebt, Angehöriger der homosexuellen Minderheit ist.

Dennoch wird dieses »Identitätsspiel« nicht nach beliebigen Regeln gespielt. Identitäten gehorchen einer Hierarchie. Nicht die Glatze bei Männern wird heute als eine Identitätsquelle kodifiziert und hat Verfolgung oder Diskriminierung zur Folge, sondern etwa die Homosexualität. Nicht Menschen mit Brille werden »Sozialschmarotzer« beschimpft, sondern Behinderte oder Ausländerinnen. Wir zählen unsere bekanntlich multiplen Identitäten nicht wertfrei, also in beliebiger Reihenfolge auf; Österreicher, Ingenieur, Tennisspieler, Brillenträger, Hobbymaler und Homosexueller zu sein, sind keine gleichwertigen Teilidentitäten. Denn die Anrufungen intensivieren sich in der Gesellschaftsform, in der wir leben (wie wir sie auch nennen wollen), um drei Achsen: Ethnizität, Sexualität und Gesundheit bzw. geistige und körperliche Funktionstüchtigkeit. Daher erfahren seit mindestens einem Jahrhundert Homosexuelle, Behinderte, sog. Geisteskranke, ethnische oder sprachliche Gruppen eine systematische Diskriminierung und bilden die Minderheiten dieser Gesell-schaft.(12)
Die Kodifizierung von Differenzen dient vor allem zur Bildung der Mehrheiten. Die Gesellschaft braucht Mehrheiten, um sich aufrechtzuerhalten, um die Produktions- und Machtverhältnisse zu reproduzieren. Minderheiten bilden da nicht nur ein zufälliges Nebenprodukt, das erduldet wird. Sie fungieren als negativer Spiegel, als das, was nicht Norm ist, um die Norm zu konstituieren; als konstitutive Gegensätze zum Gesundsein, Normalsein, Produktivsein, zu der Fortpflanzungsfähigkeit.
Die Verkennung und das Individuum
Personen werden also nach Gruppenidentitäten benannt und erkennen sich als solche (wieder). Sie sehen sich als Subjekte, d. h. als Urheber oder Verantwortliche eigener Handlungen; sie betrachten sich selbst als das initiierende, handelnde Prinzip ihres Selbst. Sie sind fest davon überzeugt, daß ihre Identität auf eigener freier Entscheidung basiert. Mit an-deren Worten: Sie können im Augenblick der Identifikation die Struktur der Identität nicht durchschauen. Althusser nennt diesen Zustand – hinsichtlich der Ideologie – die Verkennung. Und davor ist niemand gefeit; Sie nicht, ich auch nicht, auch wenn ich über die Struktur der Identitäten rede. Denn auch der »Wissenschafter« oder »Denker« ist eine Identität, die meinem Diskurs gewisse Regeln aufzwingt, die einer »Wiedererkennung« dienlich sind. Foucault hat diese »Ordnung der Diskurse« – wohlgemerkt! – in einer Rede analysiert.(13)

Gibt es also keine Möglichkeit, außerhalb des Spiels der Identitäten zu stehen; wo bleibt denn die Mündigkeit, die uns Kant und andere Philosophen der Aufklärung gepriesen haben, wenn unseren Handlungen sowieso keine freien Entscheidungen zugrunde liegen?

Ich weiß nicht, ob es jemals eine Gesellschaft ohne kollektive Identitäten geben kann. Trotz aller schrecklichen Folgen bestimmter Identitäten, die eine Nation, »Rasse« oder Kultur großschreiben, frage ich auch, ob Identifikationen mit einem Groß-SUBJEKT für die Mehrzahl der Menschen nicht sogar lebensnotwendig sind. Wenn jedoch das Modell, das ich eben geschildert habe, halbwegs plausibel klingen und zum Verständnis der Identitätsstrukturen beitragen sollte, so ist darin auch eine – zumindest theoretische – Antwort auf die Frage enthalten, was ein möglicher Ersatz für das Subjekt der Identität sein könnte. Es ist das Individuum, das zum Subjekt »gemacht« wird.

Doch dieses präsubjektive Individuum ist eine abstrakte Figur, deren Aufgabe lediglich darin besteht, die Existenz des Subjekts zu bestätigen. Es fristet also ein theoretisch-negatives Dasein. Denn – das betont auch Althusser – wir werden bereits als »Subjekte« geboren – in ein Netz von »primären« Identitäten, sei es die geschlechtliche oder die sprachliche (die übrigens auch unsere Namen bestimmt). Das Subjekt steht also am Anfang und wird im Laufe unseres Lebens zunehmend verfestigt und »facettenreicher«.
Daher kann das Individuum, das das Subjekt der kollektiven Identität ersetzen soll, nur durch das Entkräften, die Auflösung – durch die


»Überwindung« des Subjekts erst entstehen. Ich schlage also ein »PostSubjekt« vor, das Anrufungen »überhört«, sich Identifikationen entzieht und dennoch keine »autistische« Einheit darstellt. Ob nun so etwas auch in Wirklichkeit möglich sein kann, mit welchen sonstigen Eigenschaften dieses »Ding« dem Leben gegenüber ausgerüstet sein soll und wie es überhaupt zu »schaffen« ist, sind Fragen, die nicht nur den Rahmen dieses Vortrags, sondern auch die Grenzen meines gegenwärtigen Denkvermögens sprengen würden. Zum Trost kann ich nur daran erinnern, daß etwa das heliozentrische Weltbild bei Theologen des Mittelalters dieselbe Wirkung erzeugt hätte und für uns heute eine triviale Erkenntnis darstellt.
Eine »aus dem Leben gegriffene« Beobachtung bestärkt mich in der Annahme, daß Anrufungen manchmal auch nicht greifen. Viele von Ihnen fühlen sich wahrscheinlich von der jährlichen Nationalfeiertagsansprache des jeweiligen Bundespräsidenten nicht direkt angesprochen. Viele von Ihnen bringen den verschiedenen Identitäten, die Sie bezeichnen, gewiß eine gesunde Skepsis entgegen. Ich würde diesen Zustand den Bewußtseinszustand der Identitäten nennen – d. h. ein Erleben der eigenen Identitäten als zwar »praktische«, aber bedeutungsschwache Momente. Ich glaube, dies könnte ein Schritt zu einer Identität der NichtIdentität sein, die im Individuum kulminieren soll.
Eine »aus der Geschichte gegriffene« Beobachtung wiederum mahnt zur Vorsicht. Die meisten utopischen Gesellschaftskonzeptionen bzw. Gesellschaftskritiken haben auch die Figur des freien Menschen ins Zentrum ihrer Ziele gestellt – ein Menschentypus, der eine entfesselte Subjektivität, eine freie Entscheidungskraft, eine unumschränkte Eigentümlichkeit besitzt. Marx sprach vom kommunistischen Menschen, Nietzsche vom Übermenschen. Und bestimmte Ausprägungen des Anarchismus nannte sogar das Individuum als Ideal. Fast in allen dieser »Fälle« geschah aber das Gegenteil: Verschiedene Rezeptionen und Umsetzungsversuche dieser Utopien brachten nicht nur viele Opfer mit sich, sondern opferten auch die Utopien selbst. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß auch Utopien leicht in Anrufungen umgewandelt werden können und intensive Identifikationen hervorrufen, deren Eigendynamik jegliche Individualität untersagt.
Uns bleibt, als ein lehrreiches Kulturgut, das listige Spiel von Odys-seus übrig. Vielleicht gelingt es jemandem, zu sagen: »Ich bin Niemand!« In diesem Satz nämlich fängt das Individuum zu atmen an.


(3) Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963, S. 93: »6.1 Die Sätze der Logik sind Tautologien. 6.1 1 Die Sätze der Logik sagen also Nichts. (Sie sind die analytischen Sätze.)«
(4) Der Identitätsbegriff hat nicht nur zahlreiche semantische Facetten, sondern auch disziplinenübergreifende Relevanz. Auch seine Korrespondenz mit den Begriffen Subjekt, Person und Individuum erschweren die Eingrenzung. Daher sei hier besonders darauf hingewiesen, daß sich der vorliegende Text ausschließlich mit den »kollektiven Identitäten« befaßt, ohne deren etwa psychologische Dimension zu berücksichtigen. Vgl. hierzu: M. Frank, Subjekt, Person, Individuum. In: M. Frank u. a. (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 7–28.
(5) Michel Foucaults Macht- und Louis Althussers Ideologieanalysen stehen nur bedingt im Einklang miteinander, weshalb ich sie hier nicht als systematische »Theorien« schildern möchte. Ich glaube jedoch, daß ihre von mir herangezogenen Termini im vorliegenden Kontext eine komplementäre Funktion erfüllen.
(6) M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. I. Band: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 1 14.
(7) Ebd., S. 115.
(8) L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. VSA, Hamburg/Berlin 1977, S. 140. Hier wird der Ideologiebegriff von Althusser redefiniert. Besonders seine Betonung der »materiellen Existenz« der Ideologie und seine These: »Es gibt Praxis nur durch und unter einer Ideologie« stellen die gängige Definition der Ideologie als bloße »Illusion« oder »falsches Bewußtsein« in Frage.
(9) Ebd., S. 140.
(10) Ebd., S. 146
(11) Daß solche Reden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht ausgestrahlt werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Regel fast alle Sendungen an heterosexuelle »Wünsche« angepaßt sind: von der Werbung bis hin zum Spielfilm oder zur Unterhaltung. Außerdem ist es anderswo, etwa in den USA, durchaus nicht auszuschließen, daß ein Fernsehprediger eine eine bestimmte soziale Gruppe, etwa auch die Homosexuellen, diskriminierende Rede hält.
(12) Obwohl sie auch heute Diskriminierungen in verschiedensten Formen erfahren, werden hier Frauen nicht als eine Minderheit erwähnt, weil ihre Diskriminierung eine längere Geschichte aufweist und nicht nur in der heutigen Gesellschaftsform stattfindet. Auch angesichts des gängigen numerischen Aspekts des Begriffs – den ich allerdings nicht für konstitutiv halte – stellen Frauen keine Minderheit dar.
(13) M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France – 2. Dezember 1970. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1982


Aus: Kunstreiten auf dem Lipizzaner der Identität. Beiträge zu Kultur und Mentalität. (Hg. Bettelheim / Fritz / Pennauer, Klagenfurt 1998.