Hakan Gürses |
»Ich bin Niemand« |
(...) Die Identitätsfrage Wann stellt sich die Identitätsfrage? Zum Beispiel auf Reisen; auch Odysseus mußte während einer Reise Niemand heißen. Heute sieht die Lage allerdings etwas anders aus, die Kyklopen wurden inzwischen von Computern ersetzt, und keiner fragt uns an einer Grenze zuerst danach, wie wir heißen. Nicht von ungefähr schrieb einst Brecht: »Der Paß ist der edelste Teil des Menschen«; der Paß (oder ein äquivalenter Ausweis) ist alles bei einer Reise, er enthält vordergründig alles, was wir als »explizite Bausteine einer Identität« bezeichnen können: Nationalität, Beruf, Wohnort, Geschlecht – und den Namen. Aber niemand, weder ein Computer noch ein Zöllner, kümmert sich um den Namen, wenn er schon die anderen identifizierenden Daten zur Verfügung hat; der Name ist bloß der Kulminationspunkt dieser Daten, ohne Bedeutung, aus reinem Zufall, etwa durch eine Nummer ersetzbar. Es sei denn, der Reisende heißt Kemal Ozgür und ist österreichischer Staatsbürger. Da bekommt der Name des Individuums plötzlich einen Wert der Signifikanz. Der Einreisewillige ist zwar österreichischer Staatsbürger, war aber wahrscheinlich nicht immer schon Österreicher. Er ist zwar Österreicher, aber eigentlich ein Türke. (Ich bin froh, daß in europäischen Pässen keine Konfessionsbezeichnung drinsteht.) Diese »ethnische« Feststellung kann längere Wartezeiten, eine strengere Durchsuchung, die auch gewisse Körperteile nicht ausschließt, sowie eine Reihe von die Zukunft betreffenden Fragen nach sich ziehen – von der Art: »Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?« etc. In so einem Fall wäre Kemal froh, denke ich, würde er von Geburt an Franz Meier heißen. Nun gibt es, gerade in Osterreich, eine große Anzahl von Menschen,
die sich nicht nur nicht davor scheuen, sondern auch darauf stolz sind,
nicht Franz, sondern Franjo, und nicht Meier, sondern Grandits zu heißen.
Jetzt wird aber niemand von den hier Anwesenden ernsthaft behaupten wollen,
diese Menschen hätten eines Tages plötzlich entdeckt, daß
sie nicht-deutsche Namen tragen und daher eine ethnische Minderheit darstellen
müssen. Wir wissen, daß sie nicht eine nominative Minderheit
bilden. Auch den Grenzbeamten interessiert nicht das Exotische an dem
Namen, sondern seine identikative Konnotation. Wir ahnen: Sowohl an der
Grenze, wo der gebürtige Türke seinen österreichischen
Reisepaß halbherzig herzeigt, als auch innerhalb der österreichischen
Grenzen, wo Franjo Grandits seinen Namen mit Stolz trägt, wenn auch
nicht ohne Schwierigkeiten, gibt es etwas, was vor diesen Namen stehen
und sogar, in manchen Fällen, die Namensgebung mitbestimmt haben
muß. Es ist die Identität. An jedem Nationalfeiertag spricht der Bundespräsident traditionsgemäß seine Staatsbürgerinnen an: »Liebe Österreicherinnen, hebe Österreicher!« Nicht alle, die vorm Fernseher dem Staatsoberhaupt gegenübersitzen, nehmen diese Anrufung gleichermaßen auf sich: z. B. ich nicht, da ich kein österreichischer Staatsbürger bin. Da gibt es eine weitere Gruppe von Zuschauern, die sich zwar mit diesem Vokativ identifizieren kann, aber etwa mit der Monolingualität der Ansprache nicht einverstanden ist. Für sie ist die Identifikation mit dem Großsubjekt »Österreicherinnen« ein komplizierteres Verfahren, da sie beispielsweise auch auf den Vokativ »Kroatischsprechende« hört – zwar auf eine andere Weise, aber doch. Schließlich gibt es die Gruppe von Leuten, die auf die Ansprache des Bundespräsidenten mit einem inneren – nicht laut ausgesprochenen – »Ja!« reagiert. Diese ist auch die ideale Zielgruppe bzw. der »Maßstab« des präsidialen Vokativs. Wir sehen, die Anrede des Bundespräsidenten beruht nicht auf Neugier oder Kontaktfreudigkeit (»Wie heißt du?«), obwohl sie durchaus eine unausgesprochene Frage impliziert – eine Anrufung, die auf eine Antwort abzielt, aber eine andere Art von Antwort: Odysseus oder Österreicher zu heißen bzw. zu sein, gehören nicht der gleichen Ordnung an. Wir befinden uns im Kern der Identitätsfrage. Die Antwort von Odysseus, sein Name sei Niemand, hat einen Leerlauf zur Folge: Obwohl ein Name, bewirkt diese Antwort eine Tautologie; sie ist, um mit Wittgenstein zu reden, »ein Satz der Logik«.(3) Just dies ist bezüglich der Identität nicht möglich. Es gibt keine leere Identität, kein »Niemand« als Antwort auf die Identitätsfrage. Sie ist eine selektierende Fragestellung, da die Antwort darauf gleichsam ein persönliches und objektives Gebilde darstellt. Dies rührt daher, daß das, was wir in diesem Kontext unter Identität verstehen, nichts Individuelles, sondern eine Gruppenzugehöngkeit subsumiert. Sehen wir uns die Struktur und die Funktion der Identität nun näher an.(4) Ich möchte vier Merkmale aufzählen, die aber nicht als statische oder metahistorische Eigenschaften der Identität zu verstehen sind. Vielmehr handelt es sich um die hypothetische Wiedergabe von Beobachtungen, die sich auf die Gegenwart beziehen und die dem Umfeld des Mehrheit-Minderheit-Verhältnisses entnommen sind. Identitäten sind Damit das Schematische nicht überhand nimmt, werde ich im folgenden
versuchen, diese Merkmale im Rahmen eines Modells – und nicht im
einzelnen – zu erörtern. Analog zu diesem Modell sind auch die »Identitätsquellen« zu verstehen: In jeder Gesellschaft können wir lose Naheverhältnisse von Individuen beobachten, die auf Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit ihrer Eigenschaften, Tendenzen, Fähigkeiten, Talente etc. zurückzuführen sind – ebenso aber diesbezügliche Unterschiede und darauf beruhende interindividuelle Dissensmomente. An sich, in diesem losen, »natürlichen« Zustand, bilden Kohärenz oder Differenz von Individuen zunächst keine Gruppen und haben auch noch keine Identitäten zur Folge. Mit anderen Worten: Sie setzen noch keine deutlich abgeschotteten, undurchlässigen Grenzen voraus. Dazu bedarf es einer auswertenden und einbindenden Achse, die die Gesellschaft durchkreuzt und Grenzen zieht. Erst die Kodifizierung der Identitätsquellen ist es also, die kollektive Identitäten und somit die Gruppenbildungen erzeugt. Wie aber geschieht diese Kodifizierung ihrerseits? Louis Althusser warf die These auf, daß es Ideologie nur »durch das Subjekt und für Subjekte« geben kann.(8) Gemeint ist einerseits die konstitutive Rolle des Subjekts für jede Ideologie: Ohne Subjekte kann sie nicht funktionieren. Andererseits hat jede Ideologie ihrerseits die (sie definierende) Funktion, konkrete Individuen zu Subjekten zu konstituieren. Diese Dialektik wird in dem Vorgang deutlich, dem Althusser eine zentrale Bedeutung attestiert: »Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.«(9) Die Anrufung (interpellation) funktioniert durch Wiedererkennung/Anerkennung
(reconnaissance) und »rekrutiert« aus der Masse der Individuen
Subjekte, mit anderen Worten: sie »transformiert« die Individuen
in Subjekte. Das »angerufene« Individuum erkennt an, daß
es »gerade es ist«, an das sich der Anruf richtet, und reagiert
auf die Anrufung mit deren Anerkennung. Dieser Vorgang setzt aber die
Existenz eines anderen, einzigen und zentralen Subjekts voraus, das Althusser
großschreibt. Besonders deutlich wird die Rolle dieses SUBJEKTS
im französischen Wortspiel »assujettir«, das »zum
Subjekt machen« ebenso impliziert wie »unterwerfen«:
Das Individuum wird durch die Anrufung zum Subjekt gemacht, das dem SUBJEKT
unterworfen ist, »Subjekt durch das SUBJEKT und dem SUBJEKT unterworfen
(assujetti)«(10). Da die Erkennung des »Selbst« als
Subjekt nur durch diese Unterwerfung möglich ist, ist auch die Anerkennung
der Unterwerfung eine freie, d. h. ungezwungene. Daher funktionieren die
Subjekte und somit dieses System »ganz von alleine«. Die Anrufungen geschehen auch ohne den Präsidenten und sind stets präsent in der Gesellschaft. Zentrum und Peripherie begegnen uns im politischen Alltag oft unter anderen Namen – manchmal auch als Mehrheit und Minderheit. Wir sehen, daß die Identitäten keine statischen, ein für allemal gegebenen Auszeichnungen sind, sondern relationale Identifikationen mit einem ebenso relationalen Zentrum bzw. einer Peripherie. Wenn die Anrufung die Nation anspricht, bildet sie im selben Akt auch ihr Gegenstück. Die Kategorien Ethnie und Nation stehen nicht, wie die Modernisierungstheorie behauptet, in einem chronologischen »Werdungsprozeß« wie Affe und Mensch zueinander. Auch Nation ist ein Konstrukt, das um die Achse der Ethnizität entsteht. Nation und Ethnie sind die Janusköpfe, auf denen der Nationalstaat beruht. Die konstitutiven Elemente nationaler Anrufung sind sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeit, kulturspezifi-sche psychische Eigenschaften, territoriale Einheit, eine Geschichte der Nationwerdung. Deswegen sammeln sich diejenigen, welche die nationale Anrufung nicht rekrutiert, um andere identifikative Eckpfeiler: eigenes Volkstum, kulturelles Selbstverständnis, autochthone Verbindung zum Territorium, die Bemühung um Sprach- und Kulturerhalt, die Gefährdung durch Assimilation etc. Modifizieren wir nun unser Beispiel. Wenn ein um die Moral und um die zurückgehenden Geburtenraten besorgter Politiker in seiner Fernsehrede die »lieben heterosexuellen Männer und Frauen« anspricht, wechseln die Rollen.« (11) Ich befinde mich, gemeinsam mit Österreicherinnen, in einer Gruppe, die diesmal die Mehrheit darstellt, während ein Österreicher, der sich der »deutschen Kulturgemeinschaft« zugehörig fühlt und gleichsam homosexuell liebt, Angehöriger der homosexuellen Minderheit ist. Dennoch wird dieses »Identitätsspiel« nicht nach beliebigen
Regeln gespielt. Identitäten gehorchen einer Hierarchie. Nicht die
Glatze bei Männern wird heute als eine Identitätsquelle kodifiziert
und hat Verfolgung oder Diskriminierung zur Folge, sondern etwa die Homosexualität.
Nicht Menschen mit Brille werden »Sozialschmarotzer« beschimpft,
sondern Behinderte oder Ausländerinnen. Wir zählen unsere bekanntlich
multiplen Identitäten nicht wertfrei, also in beliebiger Reihenfolge
auf; Österreicher, Ingenieur, Tennisspieler, Brillenträger,
Hobbymaler und Homosexueller zu sein, sind keine gleichwertigen Teilidentitäten.
Denn die Anrufungen intensivieren sich in der Gesellschaftsform, in der
wir leben (wie wir sie auch nennen wollen), um drei Achsen: Ethnizität,
Sexualität und Gesundheit bzw. geistige und körperliche Funktionstüchtigkeit.
Daher erfahren seit mindestens einem Jahrhundert Homosexuelle, Behinderte,
sog. Geisteskranke, ethnische oder sprachliche Gruppen eine systematische
Diskriminierung und bilden die Minderheiten dieser Gesell-schaft.(12) Gibt es also keine Möglichkeit, außerhalb des Spiels der Identitäten zu stehen; wo bleibt denn die Mündigkeit, die uns Kant und andere Philosophen der Aufklärung gepriesen haben, wenn unseren Handlungen sowieso keine freien Entscheidungen zugrunde liegen? Ich weiß nicht, ob es jemals eine Gesellschaft ohne kollektive Identitäten geben kann. Trotz aller schrecklichen Folgen bestimmter Identitäten, die eine Nation, »Rasse« oder Kultur großschreiben, frage ich auch, ob Identifikationen mit einem Groß-SUBJEKT für die Mehrzahl der Menschen nicht sogar lebensnotwendig sind. Wenn jedoch das Modell, das ich eben geschildert habe, halbwegs plausibel klingen und zum Verständnis der Identitätsstrukturen beitragen sollte, so ist darin auch eine – zumindest theoretische – Antwort auf die Frage enthalten, was ein möglicher Ersatz für das Subjekt der Identität sein könnte. Es ist das Individuum, das zum Subjekt »gemacht« wird. Doch dieses präsubjektive Individuum ist eine abstrakte Figur, deren
Aufgabe lediglich darin besteht, die Existenz des Subjekts zu bestätigen.
Es fristet also ein theoretisch-negatives Dasein. Denn – das betont
auch Althusser – wir werden bereits als »Subjekte« geboren
– in ein Netz von »primären« Identitäten,
sei es die geschlechtliche oder die sprachliche (die übrigens auch
unsere Namen bestimmt). Das Subjekt steht also am Anfang und wird im Laufe
unseres Lebens zunehmend verfestigt und »facettenreicher«.
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Aus: Kunstreiten auf dem Lipizzaner der Identität. Beiträge zu Kultur und Mentalität. (Hg. Bettelheim / Fritz / Pennauer, Klagenfurt 1998. |