Mario Erdheim |
Vom Wiederauftauchen des Ethnischen |
(...) Spricht man vom Wiederauftauchen des Ethnischen,
so impliziert man damit, daß es einst nicht eigentlich zerstört
wurde, sondern in den »Untergrund« ging und sich dort erhielt.
Über diese Prozesse des Verschwindens weiß man recht wenig. Als
die Maya-Indianer von den Spaniern unterworfen wurden, versuchten sie sich
anfangs dagegen aufzulehnen, mußten sich aber schließlich dem
spanischen Joch beugen. Diese Unterwerfung jedoch war nur oberflächlich.
Zwar überwucherte der Urwald ihre Tempel, aber sie blieben ihren Göttern
treu. Nicht nur, daß sie regelmäßig zu ihren Tempeln zurückkehrten,
auch in ihren Dorfkirchen vergruben sie ihre alten Gottheiten unter den
Altären, die christlichen Heiligen geweiht waren. Was geändert
wurde, waren die Namen, doch die Strukturen blieben dieselben – und
nur für die Spanier waren sie unsichtbar geworden. Das Ethnische tauchte
des weiteren im Alltag unter, in der Art, wie man den Mais anpflanzte, die
Kinder aufzog oder das Verhältnis zwischen Mann und Frau regelte. Den
Spaniern gegenüber gab man sich zwar unterwürfig, aber gleichzeitig
log man sie an, bestahl sie und boykottierte die Arbeit 5); kurz: die Maya
übten sich im passiven Widerstand. Die Kraft zu diesem Jahrhunderte
währenden passiven Widerstand bezogen die Maya aus der untergründig
gewordenen Ethnizität. Man könnte es auch so sagen: Passivität
war der Preis für das Absinken des Ethnischen; sie war aber gleichzeitig
auch eine Voraussetzung für das Überleben als Ethnie.
Der Übergang vom passiven zum aktiven Widerstand ist immer verknüpft
mit dem Wieder auf tauchen des Ethnischen. Und dieses Wiederauftauchen
bedeutet immer auch Wiedergewinnung und -aneignung, Bewußtwerdung
von Geschichte. Genauer gesagt: das Ethnische wird zu einem positiven
und bewußten Teil der individuellen Identität. Um diese Prozesse
zu verstehen, können wir uns an das psychoanalytische Modell halten,
denn die Psychoanalyse ist eine Methode der Rekonstruktion und Wiederaneignung
vergessener Geschichte. Dabei geht es bekanntlich nicht darum, äußere
Daten oder Ereignisse dem Gedächtnis (wieder) einzuverleiben, sondern
darum, die eigene Vergangenheit als zentralen Teil der Identität
begreifen zu können: Ich bin ein Produkt meiner Geschichte, und meine
Zukunft werde ich auf Grund dieser Vergangenheit gestalten. Auf die Problematik
der Ethnizität bezogen heißt das, daß deren Geschichte
nicht nur als äußere Geschichte verstanden werden soll, etwa
als das, was der Ethnie im Verlauf der Jahrhunderte zugestoßen ist,
sondern als Teil der Identität der Angehörigen dieser Ethnie. Bevor ich aber auf das Verhältnis von Klassenbewußtsein und Ethnizität zu sprechen komme, möchte ich kurz auf die lebensgeschichtliche Phase hinweisen, in der sich diese Identitäten festigen. Bereits mit vier bis fünf Jahren nimmt das Kind wahr, zu welcher sozialen Gruppe es gehört. Bei schwarzen Mädchen dieses Alters hat man beobachtet, daß sie – vor die Wahl gestellt, mit schwarzen oder weißen Puppen zu spielen – weiße wählen. Mit anderen Worten, schon das vier- bis fünfjährige Kind merkt die soziale Diskriminierung in seiner Umwelt. Und wer möchte schon mit Puppen spielen, deren Farbe in der Gesellschaft verachtet wird. Aber es wäre verfehlt, bereits in diesem Alter ein ethnisches oder ein Klassenbewußtsein feststellen zu wollen. Ich würde eher von Kernen sprechen, die später, und zwar in der Pubertät und Adoleszenz, zu Bausteinen dieser Identitätsformen werden. Die Adoleszenz ist eine Zeit entscheidender psychosomatischer Veränderungen 6), und eine der wichtigsten Aufgaben, die das Individuum zu bewältigen hat, ist die Loslösung von seiner Familie. Wo diese Loslösung gelingt, sollte an Stelle der familialen Identität die Bindung an den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang treten, an die Ethnie und an die soziale Klasse, der man zugehört. Das heißt, daß derjenige, der sich für die Probleme der Ethnizität interessiert, vor allem auf die Schicksale der Adoleszenz achten muß. In ihr entscheidet sich letztlich, ob es zur Herausbildung einer Klassen- und ethnischen Identität kommt. In den sogenannten primitiven Gesellschaften sind es die Initiationsriten, denen sich alle Jugendlichen zu unterwerfen haben, welche die ethnische Identität sichern sollen. Je mehr nun der reale ökonomische Antagonismus zwischen den sozialen Klassen anwächst, desto mehr verschwinden die eine positive Identität stiftenden Initiationsriten. Sie werden durch negative, offiziell verleugnete Initiationsriten ersetzt, wie z. B. die Schule oder das Militär. Es handelt sich hier um negative Initiationsriten, insofern sie dazu dienen, besonders bei den Beherrschten die Herausbildung eines positiven ethnischen und Klassenbewußtseins zu verhindern. Ich hebe diese Umstände, also die Schicksale der Adoleszenz, so stark hervor, weil ich auf die Bedeutung der Jugend und ihrer Revolten hinweisen möchte. In der Adoleszenz tritt das Ethnische in den Vordergrund, während die in den Untergrund gegangene Ethnizität sich als die Resignation der Erwachsenen äußert. Ethnische Bewegungen erhalten ihre Kraft nicht zuletzt auch aus der Jugendbewegung. Aber das kann sowohl ihre Stärke wie auch ihre Schwäche sein. Nun zum Verhältnis zwischen Klassen- und ethnischer Identität. Wir müssen davon ausgehen, daß jede Ethnie, die im Rahmen einer Klassengesellschaft existiert, die Klassenstruktur, und sei es auf Grund der minimsten Differenzen, wieder reproduzieren wird. Es war für mich eine meine Idealisierung der Indianer von Mexiko stark erschütternde Erfahrung, daß es auch im ärmsten Bauerndorf Klassenunterschiede gab. Anfangs waren sie für mich kaum wahrnehmbar: alle erschienen mir gleich arm und ausgebeutet, aber allmählich wurde es mir deutlich, daß das kleine Radio, das Wellblechdach oder der Tisch Klassenunterschiede markierten. Wo sie sich herausgebildet haben – und jede Klassengesellschaft wird darauf tendieren, sich auch in den entlegensten sozialen Einheiten einzunisten –, kann man die Beobachtung machen, daß die Ethnizität von den noch so minim privilegierten Klassen dazu ausgenützt wird, ihre Klassenposition auszubauen. In diesem Fall kommt es regelmäßig zu einer Mythologisierung des Ethnischen, d. h. das Ethnische wird dazu benützt, die bestehenden Herrschafts- und Klassenstrukturen zuerst zu erhalten und später weiter auszubauen. Hier liegt eine der Wurzeln der faschistischen Ideologie, die sich auf »Blut und Boden« beruft. Diese Mythologisierung des Ethnischen ist die Negation zur Wiedergewinnung und Bewußtwerdung der ethnischen Geschichte. In seinem Aufsatz über »Die Angst vor dem Fremden. Tiefenpsychologische Aspekte der Volksgruppenfrage in Kärnten« hat Ewald E. Krainz sehr schön die unbewußten Prozesse dieser Mythologisierung des Ethnischen aufgezeigt. Die Problematik der ethnischen Wiedergewinnung von Geschichte möchte ich zum Schluß an einem vielleicht nicht beliebten, aber umso einleuchtenderen Beispiel kurz erläutern, an der Geschichte des jüdischen Volkes. Interessant scheint mir vor allem das Wechselspiel zwischen staatlichem und ethnischem Prinzip und der Umstand, daß die Juden ihre Kultur mit Hilfe der ethnischen Organisation über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende retteten. Nach der Einverleibung Israels durch die Römer hört der jüdische Staat auf zu bestehen. Aber damit endet nicht die jüdische Kultur. Organisiert als Minderheit in allen möglichen anderen Kulturen, überleben sie auch jene Kultur, die sie einst erobert hatte, die des Römischen Reichs. Der von den Indianern geprägte Satz "Nur Stämme werden überleben" trifft auch für das jüdische Volk zu. Es ist bekannt, daß die Geschichte der Juden eine Geschichte von schrecklichen Verfolgungen und Demütigungen ist, ähnlich wie die Geschichte aller anderen Ethnien, die sich nicht als herrschende Klasse etablierten. Das Problem der Wiedergewinnung der Geschichte zeigt sich drastisch im Zusammenhang mit der Neugründung des Staates Israels, und es wird deutlich, daß es zwischen dem ethnischen und dem staatlichen Organisationsprinzip der Gesellschaft tatsächlich einen Antagonismus gibt. Denn offenbar war es nicht möglich, die jahrtausendalten Erfahrungen einer verfolgten Ethnie für die Gestaltung des neuen Staates fruchtbar zu machen. Die Konstituierung des Staates (1948) löste einen ungeheuren Verdrängungsschub aus, und das, was einst an Leiden erfahren wurde und was Teil der Identität werden sollte, muß der Vergangenheit anheimfallen. In Verbindung mit Deutschland ist immer wieder die Rede von der Vergangenheitsbewältigung gewesen; dabei übersah man jedoch, daß sich auch das Opfer -und nicht nur der Täter - dagegen sträubt, das Geschehene in seine Identität aufzunehmen. Mit der Verdrängung kommt auch der Wiederholungszwang zum Zuge. Ais Israel sich als Staat proklamierte und fest entschlossen war, die Verfolgungen der Vergangenheit nie wieder zu erdulden, schuf es gleichzeitig durch die Vertreibung der Palästinenser die Voraussetzung für die Wiederholung der Verfolgungen. Seine eigene Geschichte vergessend, schlüpfte Israel in die Rolle des Täters und wies den Palästinensern die Rolle zu, die es in anderen Staaten hatte übernehmen müssen. Der jüdische Staat ist bisher nicht imstande gewesen, das Ethnische zu integrieren. Freilich gilt das nicht nur von den Juden. Ähnliche Beispiele liefern
auch andere Kulturen. Die Unfähigkeit staatlich geordneter Gesellschaften,
mit der ethnischen Erfahrung umzugehen, verweist auf ein zentrales Problem
einer jeden Ethnie: das soziale Organisationsprinzip zu finden, das den
Wiederholungszwang in der Geschichte außer Kraft setzt. Anmerkungen |
Aus: Ethnizität und Staat in »Zwischen Selbstfindung und Identitätsverlust«, Wien 1984. |