Paul Parin
Identität
(...) Ich gebe zu, daß ich als Psychoanalytiker mit dem Begriff »Identität« Schwierigkeiten habe. Ich weiß nicht zu wenig darüber, sondern zu viel. Die verschiedenen Aspekte, Bedeutungen, Abgrenzungen des Begriffs könnte ich in einer langen Abhandlung darlegen. Wollte ich sie kurz zusammenfassen, hielte ich mich am liebsten an die Definition, die ich dem Buch »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll entnehme:

Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst - oder einfacher ausgedrückt: Sei niemals unterschieden von dem, als was du jenen in dem, was du wärst oder hättest sein können, dadurch erscheinen könntest, daß du unterschieden von dem wärst, was jenen so erscheinen könnte, als seiest du anders!

Damit ist zweierlei gesagt. Erstens: Bei der Identität herrscht Verwirrung, mach dir keine Gedanken darüber, sonst wirst du verrückt. Zweitens: Darüber zu reden ist sinnlos, empfinden tut man Identität ohnehin, wenn man auch manchmal nicht sicher ist. Alice weiß ja nicht, ob sie verrückt ist, oder nicht vielmehr die anderen spinnen, ob sie wach ist oder träumt, oder wer sie ist.
Die Psychoanalyse weiß eines auszusagen: Identität ist »obligat subjektiv«. Sobald eine Gruppe (ein Volk oder eine Ethnie) sich um Identität bemüht, eine Identität entbehrt, oder eine finden, sich gar eine erkämpfen muß, verfolgt sie andere Ziele. Zumeist will sie sich damit stärken, zusammenschließen, abgrenzen, andere ausgrenzen.

Lisl Pongers Protagonisten hingegen haben eine Identität, die meisten zwei, eine alte und eine zweite neuere, oder nur die neue, weil ihnen die alte lästig oder zu eng oder fremd geworden ist. Sie zeigen dem xenographischen Blick nichts anderes, als daß sie mit dem Gefühl der Identität freier umgehen, spielerisch von einer Identität in eine andere hinüberwechseln können. Sehr weit ist der Zigeuner gegangen, der beinahe Zigeuner geworden ist, dem aber etwas abgeht, was Roma und Sinti auszeichnet, und was er das Magische nennt. Noch weiter, vielleicht am freiesten, spielt der Rastafari mit der Identität. Er sucht seine Karibik im Osten, während sie doch westlich liegt, muß erst ganz um die Erde herum, findet sich aber zuletzt als Rastafari und nennt sich nach jenem christlichen und grausamen Tyrannen, der zwar schon längst gestorben ist, doch all das verkörpert und symbolisiert, was unserem Rastafari zuwider ist, gegen das er zum fight aufruft.

Wer lebt da unter uns, mit uns, zwischen uns, und was erlebt er oder sie dabei? Das sind - um eine letzte benachbarte Wissenschaft zu nennen - Fragen, die Ethnopsychoanalytiker angehen. Ethnopsychoanalyse und Xenographie sind in dieser Hinsicht deckungsgleich. Beide wissen, daß unter uns Fremde leben, die uns nicht fremd bleiben, wenn wir das nicht á tout prix so anstellen, daß sie es bleiben, und wir erfahren, daß es im Osten Österreichs Einheimische gibt, die gleichzeitig Fremde sind, die ein zweites oder ein Doppelleben haben, als ob sie nicht oder nicht nur Einheimische wären.

Wenn sich die Protagonisten und Protagonistinnen, die wir hier aufs unterhaltsamste kennenlernen, vermehren und ausbreiten würden, müßten im Osten Österreichs bald nicht mehr Fremde unter Fremden leben. Oder soll jener Schüler recht behalten, der seinem geschätzten Lehrer Karl Valentin auf die Frage »Was sind Fremde unter Fremden?« zur Antwort gibt: Wenn in einem Zug lauter Fremde reisen, und der Zug fährt über ein Viadukt, unter dem eine Autostraße durchgeht, auf der lauter Fremde in ihren Autos fahren, so sind das Fremde unter Fremden.


Aus: Lisl Ponger, Xenographische Ansichten, Klagenfurt 1995