Jens Schneider
Was ist fremd?
Die gesellschaftliche Funktion der Anderen
Epimenides sagt: Alle Kreter lügen!
Epimenides ist ein Kreter,
also lügt Epimenides!

Dieses berühmte Beispiel der Mathematik für ein logisches Paradox benutzt der französische Ethnologe und Psychoanalytiker George Devereux, um einen Begriff zu definieren, der seit einigen Jahren Hochkonjunktur hat, aber man dennoch das Gefühl hat, dass kaum jemand weiß, was damit eigentlich genau gemeint ist: Identität.

Auch die Fragen »Was ist fremd?« oder »Wer sind die Anderen?« haben mit Identität zu tun:
Sie setzen einen Standpunkt voraus, von dem aus betrachtet »das Fremde« vom »Eigenen« und »die Anderen« von »uns« unterschieden werden können. Die Idee meines heutigen Vortrags ist nun, zunächst den Begriff Identität genauer zu bestimmen und in einem zweiten Schritt dann auf einige gesellschaftliche Implikationen einzugehen, die sich daraus ergeben können.

Das »Paradox des Epimenides« gehört in die Welt der Logik, und interessanterweise stammt
auch der Begriff der Identität von dort:
A = A

Damit wird einerseits Gleichheit behauptet – gleichzeitig aber auch Differenz, denn aus dieser
Aussage folgt in der Logik:
A ¹ B

A lässt sich von B aber nur dann unterscheiden, wenn A in seinen Eigenschaften mathematisch genau und unverwechselbar bestimmbar ist. In der Mathematik handelt es sich bei diesen Eigenschaften in der Regel um die Zugehörigkeit zu bestimmten »Eigenschaftsklassen«: z.B. alle geraden oder alle ganzen Zahlen, alle Vielfachen von 2, alle Dreiecke, alle blauen Elemente usw.

Auch der Mensch wird als Individuum durch zwei ähnliche Vorgänge konstituiert: die
Zuordnung zu einer Gemeinschaft und die gleichzeitige Konstruktion seiner Individualität. George Devereux definiert Identität in zwei Schritten:

1. Die Identität eines Individuums A beschreibt seine absolute Einmaligkeit, d.h. seine Nicht-
Identität mit jedem beliebigen anderen Individuum B, C oder D.

2. Diese Einmaligkeit rührt aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen von Individuen, in
denen das Individuum A jeweils ganz und gar nicht einmalig ist.

Ein Beispiel: Ich bin 39, männlich, wohnhaft in Hamburg, aber geboren in Düsseldorf. Außerdem bin ich Ethnologe. Schon mit diesen 5 Zuordnungen – Alter, Geschlecht, Wohnort, Geburtsort und Beruf – bin ich ziemlich genau bestimmt – obwohl jede der genannten Gruppen zwischen einigen Tausend und einigen Milliarden Menschen umfasst. Es ist fraglich, ob es irgend jemand anderes auf der Welt gibt, auf den diese Kombination ebenso zutrifft. Sollte es ihn tatsächlich geben, so würde vermutlich eine einzige weitere Eigenschaft genügen – z.B. mein Geburtsdatum, die Schuhgröße oder mein Name –, um mich dann doch eindeutig zu identifizieren. Selbstverständlich verfüge ich – ebenso wie jedes andere Individuum auf der Welt – über sehr viel mehr als nur 5 oder 6 oder 7 Zuordnungen.

Nach dieser Definition hat Identität eine Doppelbedeutung, die wir auch aus dem Alltagssprachgebrauch kennen. Zum einen beschreibt der Begriff die Individualität des Einzelnen in Unterscheidung zu anderen Individuen, zum anderen können aber Dinge/Menschen/Sachverhalte »identisch« sein, d.h. sie unterscheiden sich gerade nicht.

Was heißt das?

Die Identität eines Individuums stellt immer seine Beziehung zu Gruppen von Menschen her, sie benennt die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen. Das Benennen einer Zugehörigkeit sagt aber für sich alleine noch nichts darüber aus, warum gerade sie und keine andere benannt wird. In seiner reinen Form ist Identität nicht mehr als ein »Etikett«, das – wie ein Namensschild – über eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit Auskunft gibt.

Die Aussage »Ich bin deutsch« – zum Beispiel – ist zunächst eine schlichte sprachliche Feststellung, die eine Selbstzuordnung zur Gruppe der Deutschen oder zur Eigenschaft deutsch vornimmt. Diese Selbstzuordnung als solche ist kontextunabhängig.

Allerdings öffnet sich mit dem Begriff »deutsch« ein Feld von Konnotationen, Implikationen und Bedeutungen – und diese zweite Ebene ist immer kontextabhängig: Auf welcher Grundlage ich die Aussage »Ich bin deutsch« vornehme, oder welche Wirkung sie auf die Zuhörenden hat, ergibt sich immer nur aus dem Zusammenhang der jeweiligen Situation. So wären die Assoziationen und Reaktionen vermutlich deutlich andere, wenn ich z.B. mit einem bestimmten Akzent sprechen würde, oder wenn wir hier nicht in der Werkstatt 3, sondern auf dem Parteitag der Republikaner säßen.

Aus dieser Definition von Identität ergeben sich vier Schlussfolgerungen:

1. Es ist sinnvoller von multiplen Identitäten der Individuen zu sprechen, die sich zu individuell spezifischen »Identitätengefügen« zusammensetzen. Dabei ist nicht nur die Zusammensetzung individuell, sondern auch die Gewichtung der einzelnen Identitäten zueinander.
2. Identitäten sind grundsätzlich veränderbar – man kann sie ablegen und annehmen –, aber es ist umgekehrt auch möglich, sie unter stark veränderten äußeren Bedingungen zu behalten.
3. Identitätskonstruktionen stehen immer in einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang, es gibt keine »objektiven« Kriterien, die etwa eine bestimmte Zugehörigkeit »erzwingen« würden oder keine anderen Zugehörigkeiten zuließen. Selbst Geschlecht oder Hautfarbe sind Eigenschaften, die nicht unter allen Umständen diesselben Zuschreibungen bewirken. So spielt z.B. der neueste Film von Spike Lee, »It‘s Showtime!« mit diesen Zuschreibungen, indem sich Weiße als »Schwarze« bezeichnen (und sogar anmalen) und Schwarze als »weiß« beschimpft werden.
4. Identitätskonstruktionen sind immer mit Abgrenzungen verbunden: Die Verwendung der Kategorie »weiß« impliziert, dass es auch »schwarz« und/oder andere Farben gibt. Die Kategorie »deutsch« impliziert, dass es auch »nicht deutsch« gibt.

Dieser Identitätsbegriff hat eine psychologische und eine soziologische Seite:

In psychologischer Hinsicht oder aus Sicht des Individuums ist es wichtig, dass das Identitätengefüge zwar einigermaßen stimmig zusammengesetzt ist – gleichzeitig aber auch erlaubt, dass sich das Individuum in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedlich, nämlich situationsangepasst positionieren kann. Eine gut funktionierende z.B. »ethnische« Identität zu haben, ist also nicht gleichbedeutend mit einem widerspruchsfreien Verhältnis zu ihr – eher im Gegenteil: Es ist gerade die Flexibilität der Selbstdefinition, die das Individuelle des Identitätengefüges ausmacht.

In soziologischer Hinsicht besteht das Problem, dass die Zuordnung von Menschen zu verschiedenen Gruppen ein Vorgang ist, der reichlich Konfliktstoff enthält. Das liegt daran, dass Gruppenzugehörigkeiten in einem komplexen und dynamischen Prozess von Selbstdefinitionen und Zuschreibungen von außen entstehen. Die Zuordnung eines Individuums zu einer Gruppe kann grundsätzlich durch drei verschiedene Vorgänge erfolgen:

1. Das Individuum A definiert sich als zugehörig zur Gruppe X.
2. Die Gruppe X definiert A als einen Teil von sich.
3. Gruppenfremde (Nicht-X) definieren A als zugehörig zu X.

Im Idealfall ergänzen sich alle drei Vorgänge bzw. wirken in dieselbe Richtung. Das ist aber für die Identitätsbildung als solche nicht notwendig und vielleicht auch nicht einmal die Regel. Entscheidend ist letztlich, wie mächtig die Zuordnung erfolgt: Welche Macht haben die Nicht-X oder die X, um das Individuum A als zugehörig zu definieren oder die Zugehörigkeit zu verweigern? Welche Macht und Möglichkeiten hat das Individuum, um sich evtl. auch gegen seine Umgebung als zugehörig zu definieren?

Zwei Beispiele:
– Die Nazis führten mit den Rassegesetzen eine Definition von »jüdisch« ein, die völlig andere Kriterien zugrunde legte als die Definition der jüdischen Gemeinden und der Menschen, denen das Etikett »Jude« aufgezwungen wurde – sie wurden durch den gelben Stern ja sogar im Wortsinne »etikettiert«! Gleichzeitig wurde ihnen der Status (und die Staatsangehörigkeit) »deutsch« aberkannt – auch das entsprach keinesfalls den Zugehörigkeitsgefühlen der damals betroffenen Individuen.

Die heutige Bezeichnung »Zentralrat der Juden in Deutschland« verweist darauf, dass mit der Shoah die Gleichzeitigkeit von »jüdisch« und »deutsch« als Zugehörigkeitsbenennungen auch für Juden selbst problematisch geworden ist: Die Bezeichnung erlaubt, dass sich die Mitglieder als jüdische Deutsche, als Juden deutscher Staatsangehörigkeit oder als Juden mit Wohnsitz in Deutschland verstehen können.

– Zweites Beispiel: doppelte Staatsbürgerschaft

Der Cartoon zeigt einen türkischen Einwanderer, der einen Psychiater aufsucht, weil er sich – seitdem er die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat – wie schizophren fühlt: er ist deutscher Staatsbürger, aber trotzdem im Fühlen und in der Wahrnehmung der Umgebung immer noch zuallererst Türke. Er erzählt dem Psychiater einen Traum, in dem er die doppelte Staatsbürgerschaft hat, also sowohl den deutschen als auch den türkischen Pass besitzt, und sich nun für eine Art »Identitäts-Supermann« hält: Kanakmän!

Das probiert er denn gleich mal bei einer Gruppe Skinheads aus, die am Dorfbrunnen abhängt. Er provoziert sie mit seinem türkischen Pass und zieht erst im letzten Moment den deutschen Pass hervor »wie Knoblauch gegen Vampire«. Nicht nur der Psychiater («Gott sei Dank!«), sondern auch die Leser des Cartoons wissen natürlich, dass dies so nicht funktioniert – nach den Kriterien der Skinheads wird Kanakmän niemals »deutsch genug« sein, um in einer solchen Situation keinen auf die Nase zu bekommen.


Wie diese Beispiele auch zeigen, ist die Identität des Individuums nur die eine Hälfte des Identitätsbegriffs, auch die Gruppen selbst haben gewisse Vorstellungen davon, was sie von anderen Gruppen unterscheidet. Jede Gruppe formuliert mehr oder weniger explizit Kriterien, nach denen sie einerseits Individuen die Zugehörigkeit zugesteht oder verweigert, und die andererseits aber auch als »Modell« dafür dienen, wie die Mitglieder der Gruppe »idealtypischerweise« sein sollten.

Nun können Gruppen sehr unterschiedlich sein. Alter oder Geschlecht sind z.B. Kategorien, die sich im Prinzip auf ein einziges Kriterium beziehen, das allerdings mit einer Reihe von Implikationen verbunden ist. Andere Gruppen formulieren einen ganzen Satz an Kriterien, z.B. Nationen oder »ethnische Gruppen«. Mit diesen »Idealtypen« ist das allerdings so eine Sache: Auch hier gilt, dass sie eigentlich nicht zu genau festgelegt sein sollten, damit die Gruppen nicht in ihrer Existenz infragegestellt werden, wenn sich z.B. ein markanter kultureller Wandel vollzieht. Man kann sogar noch weiter gehen und feststellen, dass die Eigendefinition von Gruppen – besonders von Nationen und ethnischen Gruppen – praktisch unabhängig von »objektiven« Kriterien wie bestimmten kulturellen Verhaltensweisen, wie Sprache oder Religion erfolgt. Es ist im Grunde einfacher, erst die z.B. nationale Gemeinschaft – mit allem was dazu gehört – zu proklamieren und dann entsprechend Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen in Richtung auf eine Vereinheitlichung der Sprache, der Lebensläufe usw. So hieß es z.B. nach der Gründung des italienischen Nationalstaats im 19. Jahrhunderts: »Wir haben Italien gemacht, jetzt müssen wir die Italiener machen!« – aus gutem Grund: er wird geschätzt, das zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 3% der Bevölkerung tatsächlich Italienisch sprachen!

An dieser Stelle komme ich nun endlich wieder auf das Paradox des Epimenides zurück. Was logisch paradox ist, ist ethnografisch keineswegs unmöglich. Man kann Epimenides verstehen als einen »Auto-Ethnografen«, der verallgemeinernde Aussagen über »seine Gruppe«, die Kreter tätigt: Damit die Aussage »Alle Kreter lügen« als qualifizierende Feststellung akzeptiert wird, ist es allerdings nicht entscheidend, ob tatsächlich »alle Kreter« (oder wenigstens die Mehrheit der Kreter) immer oder besonders häufig lügen. Es kann sogar sein, dass Kreter im allgemeinen weniger lügen als ihre Nachbarn, denen man solches nicht nachsagt. Entscheidend ist, dass es eine Art diskursiven Konsens darüber gibt, dass Lügen ein charakteristisches Element kretischer Identität darstellt. Je breiter dieser Konsens innerhalb und außerhalb Kretas getragen wird, um so wahrscheinlicher wird er sich etablieren können – und dann evtl. auch einen »empirischen Effekt« haben. Das muss nicht bedeuten, dass »die Kreter« irgendwann tatsächlich anfangen mehr lügen (obwohl auch das möglich ist). Es reicht, dass in bestimmten Situationen individuelle Verhaltensweisen anhand dieses Kriteriums beurteilt werden, also z.B. eine Lüge als konform mit der kretischen Identität beurteilt und deshalb nicht sanktioniert wird.

Diese hier angedeutete mögliche Loslösung der Gruppenidentität von den tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder ist im Grundsatz auch in der »realen elt« nicht anders. Ein Beispiel: Nach einer Analyse der Stereotype, die in Deutschland bezogen auf die Angehörigen der verschiedenen Regionen bestehen, kommt der wohl bekannteste deutsche Volkskundler Hermann Bausinger zu folgendem Schluss:

«Der Grund dafür (für diese Stereotype, J.S.) kann unmöglich in einer so entschiedenen tatsächlichen Differenzierung liegen – ja man könnte beinahe die Kausalität umkehren und sagen, die tatsächliche Differenzierung ist eine Folge der Vorstellungen, die sich über die Stämme und Regionen und in diesen Stämmen und Regionen herausbildeten.«

Demnach wären also die heute beobachtbaren kulturellen Unterschiede zwischen den Regionen in Deutschland eher eine Folge der Behauptung von Unterschiedlichkeit als der schon »vorher« – wann immer das gewesen sein mag – oder gar »schon immer« vorhandenen regionalen kulturellen Unterschiede.

Was Bausinger nur vermutet, ist für den norwegischen Ethnologen Fredrik Barth weitgehend Gewissheit. Nach einer Analyse des Zustandekommens diverser ethnischer Gruppen kommt er zu dem Schluss, dass zwischen der Identität als Gruppe und ihrer kulturellen Praxis klar unterschieden werden muss. Entscheidend ist die Feststellung von Unterschiedlichkeit zu anderen Gruppen, mit anderen Worten: die Konstruktion einer kulturellen oder anderswie gearteten Grenze. Will man also die Entstehung oder Eigendefinitionen von Gruppen analysieren, so muss man – sagt Fredrik Barth – den Fokus auf die Grenze der Gruppe richten – und nicht auf das »kulturelle Material«, das sie umgibt.

Diese Trennung zwischen Gruppenidentität und den beobachtbaren kulturellen Verhaltensweisen der Individuen ist sogar notwendig, um die Identität als Gruppe selbst unter sich schnell und stark verändernden Bedingungen aufrechterhalten zu können. Nur so ist gewährleistet, dass kultureller Wandel und dynamische Entwicklungen nicht zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Gruppe und ihrer »Grenzen«, also ihrer Unterscheidung von anderen Gruppen führt. So hat z.B. in Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts ein dramatischer kultureller Wandel stattgefunden, den wir alle z.B. im Vergleich zwischen uns und unseren Großeltern im Hinblick auf Auffassungen, kulturelle Verhaltensweisen usw. erleben können. Auch wenn wir damit jeweils etwas anderes meinen, beziehen unsere Großeltern und wir uns auf dasselbe Etikett, wenn wir von »Deutschland« sprechen – obwohl uns kulturell vielleicht mehr mit gleichaltrigen Holländern oder Österreichern verbindet. Problematisch wird dies vor allem – aber nicht nur – bei Fremdzuschreibungen. Wenn etwa bestimmte Personenkreise in Deutschland als »Türken« bezeichnet werden, und dies unabhängig von den tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen erfolgt, dann wird z.B. die Forderung nach Sprachkursen zur leeren Floskel. Wie am Umgang mit der im Zweifelsfalle perfekt deutsch sprechenden zweiten und dritten Generation Einwanderer feststellbar ist, sind die Türken nicht »die Türken«, weil sie nicht deutsch sprächen, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft an dieser Kategorie offensichtlich Gefallen gefunden hat. Im übrigen verlangt niemand von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, dass sie perfekt Deutsch sprechen, sonst würde wohl nicht so leicht hingenommen werden, dass die Zahl der sog. »funktionalen Analphabeten« in Deutschland seit Jahren kontinuierlich steigt.

Ich möchte dies nun am Beispiel der deutschen Identität ein wenig genauer analysieren bzw. anhand der deutschen Identität einen Blick auf die konkreten gesellschaftlichen Implikationen werfen, die sich aus den bisher gemachten Feststellungen ergeben.

Dabei werde ich auf Material zurückgreifen, das während einer Feldforschung entstanden ist, die ich vor ein paar Jahren in Berlin zu dem Thema durchgeführt habe. Ein wichtiger Teil dieser Feldforschung waren Interviews mit Politikern, Journalisten und Kulturschaffenden, aus denen ich im folgenden auch ein paar Zitate bringen werde.

Die Frage nach der Identität ist zunächst die Frage nach den Selbstzuordnungen der Individuen – und welche Rolle Abgrenzungen nach außen dabei spielen. Der Schlüsselbegriff in den dominanten Definitionen von »Deutschsein« in der Interviewgruppe ist »Herkunft«. Das Konzept basiert eigentlich auf der Konstruktion regionaler Zugehörigkeit. Eine Person »kommt aus« einer bestimmten Stadt oder Region, wenn sie dort »geboren und aufgewachsen« ist. Viele Interviewpartner hielten sich z.B. nicht für »richtige Berliner«, selbst wenn sie dort den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht hatten oder sogar schon als Jugendliche dorthin gekommen waren – nur weil sie nicht in Berlin geboren wurden.

Um »deutsch« zu sein bedarf es allerdings noch einer weiteren Zutat: Abstammung. Das ist natürlich ein problematischer Punkt, weil »Abstammung« so sehr an die Nazi-Zeit und die Rassengesetze erinnert. Deshalb wurde in den Interviews im allgemeinen jeder direkte Verweis auf Abstammung erfolgreich vermieden. Das ändert sich allerdings, wenn man sich dem Thema von anderer Seite nähert. Die Schwierigkeit zu definieren, was Deutschsein bedeutet liegt nämlich in einem deutlichen Kontrast zu der sehr klaren und wenig ambivalenten Auffassung davon, was »nicht deutsch« bedeutet. »Ausländer« ist dabei die allgemeinste Kategorie von »Fremdheit«, deren wichtigstes Konstruktionskriterien die erkennbare Differenz zum Deutschen ist.

Auch »Ausländer« sind zuallererst »nichtdeutscher Herkunft«, aber hier gehört Abstammung mit dazu. Wer einen leichten Sprachakzent aufweist, der nicht eindeutig einem der deutschen Regionaldialekte zugewiesen werden kann, ist nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen, »kommt also nicht aus Deutschland«. Wer dunkle Haut oder schwarze Haare hat, oder auch nur einen fremd klingenden Namen, ist nicht deutscher Abstammung – beide Kriterien reichen jeweils aus, um die Zuschreibung »deutsch« infrage zu stellen – unabhängig davon, ob die Person sich auch in ihrem sonstigen Verhalten oder Aussehen in irgendeiner Weise unterscheidet.

Abgesehen von ganz wenigen Merkmalen wird also die Zuschreibung »deutsch« oder »nicht deutsch« unabhängig von den tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen der Individuen vergeben – und nach Kriterien, die in der direkten Selbstdefinition kaum jemand als gültig akzeptieren würde. Wer würde etwa sein Deutschsein mit dem christlichen Glauben, blonden Haaren und blauen Augen oder mit seinem deutschen Namen begründen? Das Dumme ist, dass wir uns wahrscheinlich auf überhaupt kein Kriterium einigen könnten, das macht die indirekte Definition über Nichtdeutsche so attraktiv. Es erklärt zudem, warum der jeder Versuch, Elemente deutscher »Leitkultur« zu definieren, immer auf vehementen Widerspruch stoßen wird bzw. auch immer etwas lächerlich wirkt.

Die Gruppe, die die deutsche Idee »des Ausländers« am prominentesten repräsentiert, sind die Türken. Wieder ein Beispiel: In einer Umfrage im Dezember 1990, also kurz nach der Vereinigung wurden Ostdeutsche gefragt, an wen sie denken, wenn von »Ausländern« die Rede ist. Eine große Mehrheit, 48%, hat »die Türken« geantwortet, obwohl es zu dieser Zeit noch praktisch keine Türken in der Ex-DDR gab. Offensichtlich war die Antwort kaum von Alltagserfahrungen geprägt, die wohl eher auf Russen oder Vietnamesen gewiesen hätte, sondern vom dominanten gesellschaftlichen Diskurs in Westdeutschland, in dem »die Türken« über die letzten 25 Jahre eine wesentliche Rolle gespielt haben.

Das Bild der Türken in Deutschland ist alles andere als positiv. In den Interviews verschmelzen der Islam und die türkische Kultur zu dem prototypischen Bild von kultureller Inkompatibilität mit Deutschsein: Frauen und Mädchen, die Kopftücher tragen, politischer oder religiöser Fanatismus und patriarchale Unterdrückung in Kombination mit jungmännlichem Macho-Gehabe. Die große Mehrheit der Interviewten hatten offen zugegeben, »die Türken« nicht zu mögen oder zumindest keinerlei Neugier ihnen gegenüber zu haben. So beschreibt eine deutsch-türkische Interviewpartnerin die häufigsten Reaktionen vor allem deutscher Männer ihr gegenüber wie folgt:

(Zum Beispiel) wenn ich mal neue Menschen kennenlerne, und die wollen dann wissen, woher ich komme. Ich sag dann immer, »schätz doch mal, woher ich komme«. Und es sind vielleicht über den Daumen gepeilt, ein bis zwei Prozent, die denken, daß ich eine Türkin bin. 98% stufen mich als eine Italienerin ein, als Spanierin, Französin (lachend)(...) und wenn es dann ganz hochkommt, bin ich irgendwann Brasilianerin.

Nach ihren Aussagen waren diese Bekanntschaften in der Regel offen enttäuscht, wenn sie von ihrem tatsächlichen Hintergrund erfuhren. Offensichtlich ist ihre attraktive äußere Erscheinung nicht kompatibel mit den starken Negativ-Assoziationen, die mit »türkisch« einhergehen.

Dieses Bild lässt naheliegenderweise nur wenig Raum für Eigendefinitionen bei den Kindern türkischer Einwanderer, also türkischen Deutschen. Im Großen und Ganzen kann man hier vor allem zwei Strategien der Selbstpositionierung beobachten:

Die erste Strategie versucht, das Thema der nationalen bzw. ethnischen Zugehörigkeit dadurch zu umgehen, dass sie andere Identitätsebenen in den Vordergrund stellt – z.B. die intellektuelle oder künstlerische Community oder die Schwulenszene. Ein Beispiel: Schon die Frage »schwul + Türke – ein Widerspruch?« auf diesem Titel der deutsch-türkischen Zeitschrift Hayat zeigt, dass schwule Identität eine Alternative zu dem Dilemma ethnischer oder nationler Eigendefinition zwischen »Deutschsein« und »Türkischsein« darstellen kann. Auch wenn dies natürlich nicht bis in die letzte Konsequenz möglich ist, zumindest im deutschen Kontext kann dies aber über weite Strecken durchaus funktionieren. Der Titel deutet allerdings auch an, dass das im türkischen Kontext möglicherweise etwas schwieriger ist.

Eine andere Möglichkeit ist die Betonung regionaler Identität: wenn etwa der grüne MdB Cem Özdemir immer wieder seine schwäbische Herkunft betont, die er natürlich auch durch fließendes Schwäbisch unterstreichen kann. Auch wenn konservative Politiker ihn dennoch dauernd auf seine »türkischen Landsleuten« ansprechen, einen Aha-Effekt erreicht er damit allemal – besonders weil in Deutschland eigentlich die regionale Zugehörigkeit die nationale Zugehörigkeit automatisch mitliefert. Es ist ohne weiteres möglich auf die Frage »Bist du Deutscher?« mit »Ja, ich komme aus dem Rheinland« zu antworten.

Die zweite Strategie akzeptiert die Zuschreibung »türkisch«, um sie dann gegen den dominanten Diskurs zu drehen. So greift das Schlagwort »Kanak Attack« das Schimpfwort »Kanake« für Türken auf und wendet es zu einer symbolischen und diskursiven Waffe gegen Diskriminierung und die mangelnde Medienpräsenz türkisch-deutscher Lebensrealität. Interessanterweise ist ja seit etwa zwei Jahren dieses betont türkische Deutschsein schwer in Mode gekommen – von Fatih Akins Film »Kurz und schmerzlos« bis zu diversen Kabarettisten und Schriftstellern. Auch dies ist natürlich ambivalent: einerseits sorgt der Hype für eine stärkere Präsenz im öffentlichen Bewusstsein und hilft der Akzeptanz von Deutschland als einer multikulturellen Gesellschaft sicherlich auf die Sprünge. Allerdings werden gleichzeitig Nischen eingerichtet, und es besteht die Gefahr, dass wer da einmal drinsitzt, nicht so schnell wieder rauskommt.

Eine andere Gruppe, die eine besondere Bedeutung für die Konstruktion deutscher Nationalidentität hat, sind die Juden. Es ist in erster Linie der Holocaust, der der Wunschvorstellung widerspricht, man könne als Deutsche »einfach nur eine Nation neben all den anderen« sein. Viele Interviewpartner sagten, dass sie es müde seien, immer wieder »verpflichtet« zu sein, ihr Verhältnis zur Nation zu relativieren. »Normalität« ist hier das Schlüsselwort: Vor allem der ständige Hinweis auf Auschwitz stört dieses »Streben nach Normalität«.

Obwohl einige, vor allem linke Interviewpartner durchaus auch positive Aspekte in der Schwierigkeit der Definition nationaler Identität erkennen konnten – von diesen wurden neofaschistische Übergriffe auf »Fremde« und Juden als Hinweis darauf gewertet, dass die Stärkung nationaler Gefühle in Deutschland durchaus auch gefährlich sein kann. Aber selbst für diese passt »deutsch« und »jüdisch« nicht wirklich zusammen. Die beiden wichtigsten Strategien des Umgangs mit dem Thema sind in besonders prototypischer Weise im folgenden Zitat
miteinander kombinert:

Wie ist dein Verhältnis zu Juden?

Wie ist mein Verhältnis zu Leuten, die – also gut, stimmt nicht, ich wollte jetzt grad sagen, wie ist mein Verhältnis zu Leuten, die Klaus oder Peter heißen, also ganz so ist es natürlich nicht. Also, im abstrakten Fall würde ich sagen, das ist nicht anders als zu jedem anderen auch, als zu 'nem Finnen oder zu 'nem Franzosen oder zu 'nem Amerikaner.

Die Gleichsetzung der Juden mit »gewöhnlichen Deutschen« («Klaus oder Peter«) negiert die besondere Relevanz des Themas. Besonders westdeutsche Interviewpartner haben versucht, das Thema dadurch zu umgehen, dass sie weder »ein besonders Verhältnis« noch irgendein Problem erkennen mochten. Gleichzeitig wird aber sehr deutlich gemacht, dass die Juden eben keine »gewöhnlichen Deutschen« sind – im Gegenteil: Juden sind fremd und »anders« – wie Finnen, Franzosen und Amerikaner.

Dadurch bekommt die »Suche nach Normalität« allerdings noch einen besonderen Touch: Die Shoah bedeutete – zumindest bezogen auf die deutschen Juden – die systematische Vernichtung eines Teils der eigenen Bevölkerung. Würden die Juden diskursiv als Deutsche akzeptiert, entspräche ihre Ermordung nach dem Prinzip der »Nation als Familie« dem »Geschwistermord«. In den Diskurs der »Normalität« des deutschen Nationalgefühls ist ein solcher »Tabubruch« nicht integrierbar – zumal der Massenmord nationalistisch begründet worden war. Die Konstruktion der deutschen Juden als Nichtdeutsche macht es möglich, daß die Shoah im Prinzip als ein Kriegsverbrechen unter vielen betrachtet werden kann. Das findet sich nicht nur im nationalkonservativen Diskurs, der besonders gern Vergleiche mit der Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei nach 1945 anstellt. Auch viele Linke in meiner Untersuchungsgruppe stellen etwa die Kritik an Israel und seiner Palästina-Politik der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten unmittelbar vergleichend gegenüber. Die wichtigste Kategorie »des Anderen« in Deutschland sind »die Ausländer«. Sie haben damit die Juden in ihrer besonderen Rolle und Funktion, die sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch hatten, abgelöst. In der Konstruktion von »Anderssein« spielt die Gleichsetzung mit anderen Nationalitäten eine zentrale Rolle. Selbst Ostdeutsche werden als »Ossis« gelegentlich diskursiv mit »nicht Deutsch sein« verbunden, wie z.B. in den folgenden Interviewausschnitten:

... also die (Ossis), die ich bis jetzt kenne, aber ich hab‘ ja auch nicht jeden nach seinem Paß gefragt... (lacht).
Mit welchen hier lebenden Gruppen kannst du am wenigsten anfangen? Welche sind dir besonders fremd?
Ich sag mal böse, ich kann mit aus Rumänien hierher gekommenen Roma und Sinti genauso wenig anfangen, wie ich mit dem eingefleischten Ossi anfangen kann.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Es ist keineswegs so, dass die Ostdeutschen als so fremd empfunden werden, dass es zu solchen »Freud‘schen Versprechern« kommt. Vielmehr übernehmen »die Ossis« eine spezielle Funktion »des Anderen« und da kann es schon mal zu »Übertragungen« aus der gängigsten Form der Konstruktion kommen.

Die spezielle Funktion der Ostdeutschen für westdeutsche Eigendefinitionen liegt in der Konstruktion zeitlicher Distanz. Der Osten erinnert an die eigene »vor-moderne« Vergangenheit. Eines der am häufigsten verwendeten Bilder vergleicht die DDR und Ostdeutschland mit der Bundesrepublik in den 50er Jahren. Dazu gehört auch, dass die Ostdeutschen als besonders »typisch deutsch« gelten – verstanden natürlich vor allem in negativer Hinsicht: Die »Ossis« sind spießiger, weniger weltoffen, der »autoritäre Charakter« ist hier noch deutlich weiter verbreitet. Das Bild erlaubt es den Westdeutschen – wieder in indirekter Abgrenzung –, sich als vergleichsweise »moderne westliche Demokraten« zu präsentieren – ein willkommenes Gegenbild zum in vielen Nachbarländern immer noch vorhandenen Bild von den Deutschen als nur mühsam verkleideten Nazis. Diese Konstruktion ist so wohl etabliert, dass sie sogar von Ostdeutschen verwendet wird. Auch der zweite Ausschnitt eben stammt übrigens von einem Ostdeutschen – warum auch nicht? Schließlich entstehen solche Zuschreibungen sowieso weitgehend unabhängig von den Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen der einzelnen Individuen.

Auffällig ist allerdings, dass sich Ost und West – bei aller Freude an der gegenseitigen Abgrenzung – vor allem in der Konstruktion ihres Deutschseins mit Hilfe der Abgrenzung zu »den Ausländern« nicht unterscheiden. Auch deshalb kommt der Debatte um Zuwanderung und die Toleranz gegenüber Minderheiten eine besondere Wichtigkeit zu. Es geht eben nicht nur um einen »Sinn für Realität« oder um »gesellschaftliche Notwendigkeit«, wenn ein anderer Umgang mit dem Thema gefordert wird. Es geht auch um unsere Eigendefinition als Deutsche, in der sich einige »Lebenslügen« hartnäckig bis heute gehalten haben – z.B. dass wir inzwischen alle »moderne westliche Demokraten« geworden seien. »Antirepublikanische Reflexe« sind auch unter Linken immer noch weit verbreitet – z.B. Differenz und Vielfältigkeit nicht nur in Form von verschiedenen Hautfarben, sondern auch von abweichenden politischen Meinungen aushalten zu können.

Insgesamt ist in die Debatte besonders durch das schlechte Abschneiden der Deutschen bei den letzten Fußball-Welt- und Europameisterschaften ohne Zweifel viel Bewegung gekommen. In den erfolgreichen Teams von Frankreich und Holland waren gerade die Hauptleistungsträger Migranten erster oder zweiter Generation, und das war sogar den Sportkommenta-
toren aufgefallen. Deshalb war auch die Haltung etwa der Bild-Zeitung in der Debatte um die rotgrünen Pläne für ein neues Staatsangehörigkeitsrecht und den »Doppelpass« durchaus ambivalent: Die Horror-Headline »900.000 Türken bald Deutsche?« ist hier immerhin mit einem dezenten Willkommensgruß an die »neuen Landsleute« verbunden: »Hoo geldiniz, yeni Vatandaolar!«


Dr. Jens Schneider, Vortrag in der Werkstatt 3, 22. Mai 2001
Aus: http://www.werkstatt3.de/doku/dialog/downloads/was_ist_fremd.pdf