Klaus Ottomeyer
Geschichte als Alptraum; Angst und Verdrängung
Wie gehen wir mit solchen Geschichten um? Den meisten machen sie eine massive Angst, auf die unser seelischer Apparat mit unterschiedlichen Abwehrmanövern antwortet, die uns eine kurzfristige Handlungsfähigkeit erhalten sollen. – Ich habe Josefs Geschichte recht bald nach jenen Erlebnissen aufgeschrieben, wußte eine Zeitlang nicht genau, was ich damit anfangen sollte und habe dann versucht, eine theoretische Analyse daranzuhängen. Beim Entwerfen der Untersuchungsschritte wollte ich relativ schnell auf den heutigen Stand des Kärntner Volksgruppendramas zu sprechen kommen. Es war nur ein leichtes Unwohlsein darüber da, daß das flotte Herangehen an den Gegenstand und der muntere Ton in meinem Schreibstil diesmal nicht paßten. Ich wollte vor allem die Gruppenmitglieder als Beispiel für Verdrängung behandeln, war sozusagen dankbar dafür, das Thema so leicht an den anderen abhandeln zu können. Die beiden schrecklichsten Bilder, das Schlagen des Kindes über die Tischkante und die Mutter im angezündeten Kamin, die dann gelähmt ist, waren hinter den Gedanken über Abwehrprozesse und dem Interesse an psychologischer Theoriebildung völlig zurückgetreten. Die Bilder kamen erst wieder, als ich zwei bereits früher einmal gelesene psychoanalytische Arbeiten über die seelischen Verletzungen von überlebenden KZ-Insassen durchsah und dort der These begegnete, daß bei den Nazi-Verfolgungen Alpträume, die einer schweren psychotischen Geistesverwirrung nahestehen, buchstäblich als wirklich erlebt wurden. Diese These hatte ich, zusammen mit den furchtbaren Beispielen, die sich in jenen Texten finden, – entgegen meinem sonst guten Buchgedächtnis – ganz vergessen. Der Abwehrmechanismus, zu dem ich neige, ist das Theoretisieren. Es gibt immer noch schlimmere, brutalere Repräsentanten der Verdrängung. Aber ohne die vielen kleinen Abwehrmanöver, mit denen wir in unserer Alltagskommunikation und unserem Alltagsbewußtsein die bedrohlichen Szenenbilder unterhalb unserer Biedermeierwelt zudecken, sind die Spitzenleistungen, die die Politiker und die z. B. deutsche Justiz in dieser Hinsicht vierzig Jahre lang erbracht haben und noch erbringen, nicht denkbar.

Die Berichte von ehemaligen KZ-Insassen sind noch schrecklicher als Josefs Bericht. Aber, das was Angst und nachfolgende Abwehr produziert, ist hier wie dort unter anderem, daß die grauenvollsten Kinderphantasien und Alp-Träume Realität geworden sind. Kinder haben z. B. im allgemeinen auch Vernichtungsphantasien gegenüber der Mutter; im Märchen tauchen sie als Bestrafung der Hexe auf, die die bösen Seiten der Mutter verkörpert. Man denke an Hansel und Gretel und kann vielleicht vage ahnen, was es bedeutet, wenn ein Kind wie Josef miterleben muß, wie der Ofen, über dem die Mutter steckt, tatsächlich angezündet wird. Die Forschung über die »Extremtraumatisierung« von Nazi-Verfolgten spricht dementsprechend auch von der »Realisierung eines psychotischen Kosmos« im Erleben der Opfer. Der amerikanische Psychoanalytiker Eissler, der als Gutachter für KZ-Opfer tätig war, schreibt:
»Ein nicht so seltenes Symptom in der Schizophrenie ist ein Terrorerlebnis unter dem Eindruck eines vermeintlichen Weltunterganges. Die Wendung, die das Leben in den Konzentrationslagern genommen hat, ist aber dem Herannahen oder dem Ereignis eines Weltunterganges gleichzusetzen oder zumindest damit vergleichbar. Schrecklichste Kinderängste werden Ereignis, und Menschenfresser bedrohen wieder ein hilfloses, liebesverarmtes, hungerndes Selbst.«

Ich denke, man muß mit Eissler davon ausgehen, daß die Erlebnisse von extrem traumati-sierten Verfolgungsopfern (auch wenn noch viele unter uns leben) letztlich für alle, die nicht Schicksalsgenossen waren, uneinfühlbar bleiben. Man sollte sich nicht vorschnellen Einfühlungs-Illusionen hingeben, aber auch nicht den Einfühlungsversuch aufgeben. Das ist unabhängig davon, zu welchem Regime die Henker und Folterknechte gehört haben, die die Integrität der Menschen verletzt haben. Ich denke, die rasche politische Einordnung der Berichte kann selbst Teil einer Einfühlungsverweigerung sein.

Ein Mindestgebot der Humanität gegenüber den Betroffenen ist aber, daß wir uns mit uns selbst auseinandersetzen. Wir können uns zumindest in uns einfühlen, in die Phantasien, Abwehr- und Fluchtmechanismen, die die Berichte vom Grauen auslösen. Selbst die Mehrzahl der Psychoanalytiker, die ja eigentlich Spezialisten der Fremd- und Selbsteinfühlung sind, hat den Abwehrvorgang, die »Verschwörung des Schweigens«, die es jahrzehntelang auch zwischen Therapeuten und Patienten gab, mitbetrieben. Vor ein paar Jahren hat die Analytikerin Ilse Grubrich-Simitis die Berichte ihrer Kollegen zusammengefaßt, die sich ihren eigenen unbewußten Antwortreaktionen, der sogenannten »Gegenübertragung«, auf die Verletzungen des Gegenüber ein Stück weit gestellt haben. Das bei ihnen hochgekommene anstößigste Motiv sei die (schon von Eissler erwähnte) »primitive Verachtung gegenüber dem Leidenden« gewesen. Was damit gemeint ist, kannst Du Dir ansatzweise vorstellen; wenn Du daran denkst, wie viele von uns, ich meine jetzt vor allem Männer, auf die Schilderung einer brutalen Vergewaltigung reagieren. Das Opfer bekommt noch eins drauf, entweder einen dummen Witz oder eine reale Demütigung. Das kann in diesem Fall aus einer schwer erträglichen Mischung von ausgelösten kindlichen Ohnmachtsängsten, lustvollen sadistisch-sexuellen Phantasien und Rivalitätsbe-fürchtungen¥ (hinsichtlich des als riesig und mächtig vorgestellten Vergewaltigers) entstehen, welche das ganze Korsett unseres mühsam erworbenen sexuellen Ich, als handlungsfähiger, zivilisierter Erwachsener in Frage stellt. Der gemeinte Abwehrvorgang wird in der Vergewaltigungsforschung als »Viktimisierung« beschrieben, als eine Verlagerung der Täter- und Schuldperspektive auf das Opfer, die unsere Einfühlungsverweigerung dann rechtfertigt. Die Reaktion des »Unglaublich«, die unterstellte Erfundenheit der Geschichte, der wir als Schutzmechanismus auch in der Gruppenreaktion auf Josefs Geschichte begegnet sind, wäre eine andere Variante der Viktimisierung.

– In der Begegnung mit Lagerinsassen und Greuelopfern aus der Nazi-Zeit werden jedoch noch viel grundlegendere seelische Errungenschaften in Frage gestellt.

Du hast sicher schon vom »Urvertrauen« gehört, das sich vor allem im ersten Lebensjahr bildet, während der »oralen Phase« im zuverlässigen Mutter-Kind-Kontakt. Das funktioniert nur, so sagen Psychoanalytiker, unter der Vorherrschaft eines schützenden »guten Objekts«, das uns vor dem Ausbruch unkontrollierter Aggression, Sadismus und Ausstoßung (dem »bösen Objekt«) schützt. Durch die Greuelberichte entsteht ein »regressiver Sog«, der das Urvertrauen und damit die Grundfesten unseres Selbstgefühls, unserer Identität erschüttert. In der etwas komplizierten Sprache der Psychoanalyse – die man bei gutem Willen aber glaube ich doch verstehen kann – heißt es bei der eben angeführten Autorin:

»Das Bedürfnis, dieser Gefährdung zu entgehen, kann primitive Abwehren aktivieren, in mancher Hinsicht vielleicht vergleichbar den spontanen archaischen Abwehrmanövern bei Konfrontation mit Psychose und Perversion. Indem man Überlebenden und ihren Kindern die Einfühlung verweigert, gibt man gleichsam zu verstehen: damit will ich nichts zu tun haben; das ist 'draußen'; das bin nicht ich - und setzt die Tragödie ihrer Diskriminierung fort.

Der Durchblick zu den frühesten Schichtungen des Ichs nötigt aber nicht bloß die kränkende Einsicht auf, als Mitglied der Spezies Mensch unter Bedingungen eingeschränkter Realitätswahrnehmung, bei Vorherrschen regressiver Abwehrmechanismen prinzipiell faschismusfähig zu sein, sondern wir fühlen uns gleichzeitig auch in die äußerste Hilflosigkeit der oralen Phase zurückgestoßen. Es wäre denkbar, daß man sich gegen die Kenntnisnahme des totalen Ausgeliefertseins der Verfolgten an die tödliche Destruktivität der Verfolger nicht zuletzt deshalb so zur Wehr setzen muß, weil dies schwerste, sonst von der Kindheitsamnesie überdeckte Infantilängste oder psychophysische Angstäquivalente mobilisieren könnte, die aus jener Anfangszeit stammen, in der das eigene physische und psychische Überleben einmal buchstäblich von der ständigen Gegenwart eines ausreichend guten, beschützenden Objekts abhängig gewesen ist. Auf dieser tiefen, vorbewußten Wahrnehmungsmatrix müssen wir uns angesichts der Tatsachen des Holocaust retrospektiv sagen: So katastrophal hätte das ausgehen können, wäre damals das gute Objekt verlorengegangen und ein böses, vernichtendes das Gegenüber gewesen; diese Vorstellung ist so unerträglich, daß ich sie nicht in mich hineinlassen kann; ich muß mich abwenden und denjenigen bekämpfen, zum Sündenbock stempeln, der sie mir zumutet.«

Vielleicht hast du in letzter Zeit auch in der Presse über die - offenbar im Gefolge des weltweiten »Wende-Optimismus« gesteigerte - Isolation der Hiroshima-Überlebenden, der sogenannten »Hibakusha«, gelesen. Ihre Entstellungen und katastrophischen Erfahrungen will keiner mehr wahrnehmen. Sie bekommen das Gefühl der Lästigkeit und Überflüssigkeit vermittelt, sie dürfen nicht mehr in die öffentlichen Schwimmbäder.5 Dieser Vorgang scheint durchaus dem vergleichbar, was sich an den Naziopfern und vielen Menschen vollzogen hat, die vom zweiten Weltkrieg bei uns schwer verletzt und verstümmelt wurden. Ihre Existenz rührt einfach zu tief an unser kindliches Vertrauen in die Welt.

Du wirst jetzt vielleicht sagen: Warum wird dieses Thema so ausführlich behandelt, was hat das mit unserer Kärntner Problematik zu tun? – Der Grund liegt darin, daß nach meinem Eindruck ein wichtiger Bodensatz der vielzitierten »Kärntner Urangst« in jenen archaischen Auflösungsängsten besteht, die einen realen historischen und lebensgeschichtlichen Hintergrund haben, mit denen aber teilweise ein recht perfides Spiel getrieben wird. Sie werden einerseits angesprochen, andererseits wird für ihre Bewältigung dann gleich wieder ein einfaches Freund-Feind-Schema und ein festes politisches Identitätskorsett angeboten.

In den letzten Jahren lancierte ein Journalist – gewissermaßen als seinen Beitrag zur Belebung des aktuellen Streits um die zweisprachige Schule – einen Bericht, nach welchem eine Einheit der slowenischen Partisanen eine junge Frau, die als Verräterin galt, nicht nur getötet, sondern auch geschlachtet und zu Metzgereiprodukten für die Feldküche verarbeitet haben soll. Die Menschenfresser aus den Kinderalpträumen im obigen Zitat von Eissler scheinen hier also wirklich noch herumzulaufen. Die Groteske spitzte sich zu, als sich der inzwischen in Laibach lebende Fleischhauer und Koch jener Einheit meldete, die Geschichte als Lüge bezeichnete und die Verbreiter mit Klage bedrohte. Es entspann sich ein Streit, über den die Medien berichteten. In der politischen Kultur Kärntens werden die Toten der Kriegs- und Nachkriegszeit immer nur kurz aus den Gräbern geholt, als Gruselfiguren vorgeführt, um dann die entstehende Verwirrung, Angst und Trauer – und vor allem die zweifelnde Frage nach dem Anteil der eigenen Volksgruppe und der eigenen Angehörigen an dem tragischen Geschehen – unter der Decke des nationalen Identitätsbekenntnisses umso fester wieder einzumauern.

Der »Kärntner Heimatdienst«, die militante Organisation der Deutschkärntner, macht hier eine rigide Identitätspolitik, auf die ich unter anderen Aspekten später noch zu sprechen komme. Es gibt aber auch, so denke ich, eine Art bewußt-unbewußten Konsens zwischen den verfeindeten Volksgruppenvertretern, die Beunruhigung durch die grausigen Ereignisse und Verluste nicht so weit an sich heranzulassen, daß sie die prompte politische Handlungsfähigkeit und die oberflächlich klar abgegrenzte Identität in Frage stellen könnten. Ein Beispiel war die heftige »Club-2«-Diskussion vor einigen Jahren im Anschluß an den zum Skandal geratenen Film »Das Dorf an der Grenze« von Thomas Pluch, bei dem es dem Moderator (dem ORF-Intendanten In der Maur) nicht gelang, herauszufinden, was eigentlich die »Kärntner Urangst« sei. , Der inzwischen verstorbene Valentin Einspieler, als Vertreter des Kärntner Abwehrkämpfer-Bundes, deutete an, daß in seiner Familie Menschen furchtbar umgekommen seien. Marjan Sturm als Sprecher der Slowenen ebenfalls.

Es gab eine kurze Ergriffenheit, die offenbar als peinlich empfunden wurde, dann Themenwechsel hin zum gewohnten vorwurfsvoll aufrechnenden Stil der Auseinandersetzung. Du kennst wahrscheinlich die Geschichte, die in Kärnten über Valentin Einspieler erzählt wird, daß er nämlich als Kind einer eigentlich slowenischen Familie miterleben mußte, wie Partisanen seinen Vater als Kollaborateur umgebracht haben. Was in Marjan Sturms Familie passiert ist, weiß ich nicht.

Mir ist nicht ganz klar, warum gerade jetzt, nach etwa vierzig Jahren, überall in Europa die »Verschwörung des Schweigens« in bezug auf die subjektiven Folgen der Nazi- und Kriegsgreuel ein Stück weit brüchig ist, wobei interessanterweise – wie beim Bericht von Josef – die Perspektive der betroffenen Kinder besonders ernst genommen wird. In der Psychologie, der Pädagogik und der Psychoanalyse und unter Journalisten ist das zu beobachten. Der Handschlag zwischen Reder und Frischenschlager und der zwischen Kohl und Reagan über den Gräbern von Bitburg haben ja – ebenso wie unsere trotzige Waldheimwahl – mehr Unruhe hervorgebracht als zugedeckt; es gibt Bücher über das persönliche Erleben von »Kriegskindern« und »Nazi-Kindern« und im Barbie-Prozeß in Lyon wird vor allem der jüdischen Kinder von Izieu gedacht. Vielleicht liegt es daran, daß die Distanz von vierzig Jahren wie eine Milchglasscheibe wirkt, die die Schmerzen und das Unerträgliche, welches damals passiert ist, auf den Deutlichkeitsgrad und die Dosis herabmildert, in welchen es für uns ohne völlige Panik und Flucht noch - oder wieder - kommunizierbar ist. Die Kinder sind jetzt über vierzig, haben z. T. Positionen inne, aus denen man ihnen zuhört, haben selber Kinder und sind nicht in jene unmittelbaren Schuld- und Rechtfertigungszwänge verstrickt, in denen die Elterngeneration steckt. Vielen Älteren und auch manchen ganz Jungen ist diese Thematisierung aber schon zuviel, sie wollen schnell wieder feste Jalousien vor die Milchglasscheibe klappen.



Aus: Klaus Ottomeyer, Breif an Sieglinde Tschabuschnig, Klagenfurt/Celovec 19