Franz Hodjak
Die Rehaklinik des Dialekts
In letzter Zeit, so der Eindruck, ist der Dialekt in stetem, unentwegtem Vormarsch, demonstrativ fast, sich selbst zelebrierend als Alternative. Als Alternative wofür? Für mehr Direktheit, Vertrautheit, Identitätsfindung? Oder ist das Zurückgreifen auf Dialekte bloß eine Modeerscheinung, wo doch heutzutage Moden und Trends alle Bereiche prägen, und weshalb nicht auch den Sprachgebrauch? Ist es etwa schick, anders zu sein, zumindest sprachlich, wenn einem sonst groß schon nichts einfällt? Ist es der Drang, sich von anderen Sprachträgern abzuheben, zu differenzieren, und zwar nicht nur von den Sprechern der Hochsprache, sondern selbst von denen anderer Dialekte? Eine solche Tendenz kann nur zu Sprachisolation und Sprachvereinsamung führen. Und dass der Dialekt lebendiger sei als die Hochsprache, ist allemal ein Trugschluss.

Der Dialekt ist das Kommunikationsmittel eines engeren, beschränkten, überschaubaren Lebensraumes, eine Sprachvariante, die primär zur Verständigung über alltägliche, praktische Belange angelegt, also vom Wortschatz her eher begrenzt ist. Historisch gesehen ist der Dialekt in seiner Entwicklung ein längst abgeschlossener Prozess, weil er einer Notwendigkeit entsprach, die nicht mehr vorhanden ist. Die Räume sind unvergleichlich weiter geworden, öffnen sich in rasantem Tempo, sind neuerdings auch wortwörtlich grenzenlos und längst unüberschaubar geworden. Der Dialekt kann sich nicht erneuern, nur sich selbst reproduzieren, und wenn er sich zu Bereichen versucht, dann gelingt das bloß durch die Übernahme von Begriffen aus der Hochsprache oder gar aus Fremdsprachen, was ich eher als Verwässerung des Dialekts denn als Bereicherung bezeichnen würde. Wieso sollte der Dialekt dann lebendiger sein, wenn sein Schöpfungsvermögen aus sich selbst begrenzt ist und er sich bei neuen Sachverhalten Lehnwörtern bedienen muss?

Es mag wohl die größere Vertrautheit im Umgang mit dem Dialekt sein, die bei vielen Dialektsprechern den Eindruck erweckt, der Dialekt sei lebendiger. Es ist dies eine Vertrautheit, die sicher, bewusst oder unbewusst, etwas mit dem Gefühl von Geborgenheit zu tun hat. Nur, sich stets im Kreis von Vertrautem zu bewegen, lähmt, hat konservierende Wirkung, ist letztlich ein stetes Wiederholungsakt. Erst der Wille zur Erschließung des fremden, Ungewohnten, Unvertrauten weitet den Horizont, macht neue Erkenntnisse möglich. Und das kann die Sprache des Dialekts in ihren begrenzten Möglichkeiten nicht leisten. Da der Dialekt eher zur Verständigung in praktischen Bereichen des Lebens gebraucht wurde und wird, fehlt ihm auch das nötige Begriffsreservoir, um große Zusammenhänge und komplizierte Gedankengänge zuartikulieren oder abstrakte Denkkonstrukte auszustellen, auch mangelt es ihm an feinstem Differenzierungsvermögen. Der Dialekt ist weder eine analytische noch eine synthetische Sprache. Es gibt kein philosophisches system, das in irgendeinem Dialekt gedacht worden wäre, selbst wenn sein Urheber ein Dialektsprecher war.

Wieso dann die Behauptung, der Dialekt sei reicher? Viele Dialektsprecher haben den Eindruck, der Dialekt gebe ihnen Halt in der Identitätsfindung, ja, er sei sogar die Identität schlechthin. Doch was ist das für eine Identität, die sich allein am Gebrauch verbaler Äußerung zu definieren versucht? Dass schon die Verwendung von Dialektsprache Identität verleiht, ist eine wackelige Illusion. Der griff zum Dialekt kann das Zugehörigkeitsgefühl zu den anderen Sprechern des gleichen Dialekts stärken, mehr aber nicht.

Was für die Philosophie zutrifft, gilt in gleichem Maße für alle Geisteswissenschaften oder Forschungsbereiche. Unvorstellbar, dass zum Beispiel irgendwelche Forschungsergebnisse, meinetwegen in der Mikrobiologie, in Dialekt verfasst und bei einer wissenschaftlichen Tagung mitgeteilt werden könnten. Schon der Gedanke, ein solches Unterfangen in Angriff zu nehmen ist absurd, ganz abgesehen davon, dass es sofort an der Spracharmut des Dialekts scheitern würde. Vielleicht meint jetzt der eine oder andere, was soll das, so etwas will der Dialekt doch gar nicht leisten. Ja, was will er denn? Wollen wollte er schon, wenn er das könnte, und wenn ich das behaupte, denke ich vor allem an die fanatischsten Verteidiger und Verfechter des Dialekts.

Ebenso verhält es sich mit dem Dialekt in der Literatur. Die Sprache des Dialekts reicht höchstens für das Verfassen von Heimatliteratur, da der begrenzte Wortschatz des Dialekts dem Ausdruck komplizierter Seelenzustände, Gedankengänge und Situationsbeschreibungen nicht gewachsen ist. Selbst die gängige Meinung, der Dialekt sei für das Einfangen von Affekten besser geeignet, ist falsch. Auch da ist es der Begriffsmangel, der es unmöglich macht, auch die abgründigsten Tiefen und schwindelerregendsten Höhen von Affektausbrüchen auszuloten. Und wenn mich nichts täuscht, sind auch die vielgerühmten Derbheiten und der Witz in der Sprache des Dialekts nicht kräftiger und hintersinniger als eine Menge von Ausdrücken, die in der Hochsprache zu finden sind. Und die Heimatliteratur hat eher eine Bestätigungsfunktion als einen Erkenntniswert. Der Leser einer solchen Literatur will bloß die eigenen Erfahrungswerte bestätigt bekommen, Schicksale, die ihn in keiner Weise tangieren, interessieren und faszinieren ihn nicht, er muss sich in dem Geschriebenen wieder finden, muss sich identifizieren können mit dem Erlebnisbereich, den Gefühlsebenen, der Gedankenwelt, alles andere ist ihm fremd, so menschlich es auch sein mag. Er muss sich überzeugen können, es ist nicht anders, sondern genau so, wie er es erfahren hat. Das in etwa ist der Bereich der Auseinandersetzungen und Konflikte, die diese Literatur zu bieten hat. Heimatliteratur will nicht ernsthaft verunsichern, selbst wenn sie grausames Schicksal spielt, alles bleibt im Bereich der nachvollziehbaren Begreiflichkeit eigener Erfahrungshorizonte, das Fremde hat bloß eine bedrohliche, zersetzende Funktion, es öffnet keine faszinierenden neuen Erkenntniswelten, die die Wahrnehmungsfähigkeiten reizen und sensibilisieren könnten. Die Neugier beschränkt sich darauf, wieder und wieder das zu erfahren, was man sowieso schon glaubt zu wissen.

Die große, rühmliche Ausnahme bilden die experimentellen Texte, die in Mundart verfasst werden. In diesen aber wird die Mundart alles andere als zelebriert, es ist der Ernst am Spaß, der hier ins Wort genommen wird. Die Sprache des Dialekts wird systematisch demontiert, ihre eigenen Grenzen gesprengt, der Kanon zertrümmert, es ist ein Ausbruch, ein Rausch, ein Spiel, das neue Valenzen freisetzt, sichtbar macht, was im überkommenen Gebrauch des Dialekts alles nicht vorhanden ist. Es ist geradezu eine Reflexion, die sich mit der Starre auseinandersetzt.

Besonders schlimm, finde ich, ist eine gewisse Quotenregelung, die neuerdings in den regionalen oder auch überregionalen Fernsehsendern beim Sprachgebrauch ins Spiel gebracht wird. Dabei handelt es sich um eine Art Norm, nach der regionalen und dialektale Ausdrücke selbst in den Nachrichten in den Wortschatz einzufließen haben. Die Quote, habe ich bei einem Podiumsgespräch erfahren, soll von einer Kommission festgelegt werden, die, nehmen wir das Beispiel Schweiz, so etwas wie das Schweizer Bewusstsein zu repräsentieren hat. Was das sein soll und wie das festgelegt wird, bleibt mir ewig ein Rätsel. Man kann mir ruhig glauben, ich habe, wenn ich alle zusammenzähle, etwa hundertachtzehn Schweizer Freunde, und sie sind mitunter so verschieden – Gott sei Dank, muss ich schnell hinzufügen – dass es mir schwer fällt, dies Bewusstsein auszumachen, das die Kommission repräsentiert. Aber vielleicht habe ich ja auch die falschen Freunde. Neuerdings ist man eifrig daran, überall Quoten einzuführen, und einem wie mir kommt es langsam vor, als lebte er in einer sozialistischen Marktwirtschaft. Quotenanteil, Frauenquote, Fangquote, Einschaltquote, Raucherquote, Einwanderungsquote und so weiter, und nun auch Sprachquote. Ich glaube, es sollte im Leben so zugehen, wie es eben im leben zugeht, auch vor laufenden Kameras, und jeder sollte so zwitschern, wie sein Schnabel gewachsen ist, rein hochdeutsch oder mit mehr oder minder dialektal oder regional eingefärbtem Wortschatz, ohne dass da gleich ein Bewusstsein, das sich aus einer Kommission zusammensetzt, irgendeinen Quotenanteil regelt. Ich habe wirklich nichts gegen den Dialekt, nur sollte man ihn nicht überbewerten und seine objektiv gegebenen Grenzen einsehen. Im Gegenteil, ich freue mich, es fasziniert mich einfach, auch rein klanglich, wenn ich im ORF oder sonst wo dialektale oder regionale Ausdrücke höre wie Karfiol, Buchteln, schachern, Paradeiser, Fotzhobel, Mischkulanz, Nockerl, verhunzen, Pallawatsch, Wimmerl, terrisch, Funzen, Reindl, hudeln, Gugelhupf, Haftelmacher, Gseich, Fisolen, Krischpindel, und vor Begeisterung könnte ich endlos fortfahren mit dem Aufzählen, doch seit ich weiß, dass dabei Quoten im Spiel sind, verdirbt mir das den Spaß an diesen lautlichen Genüssen.

Dass die Dialekte weniger reflektionsfähig sind, und noch weniger fähig, sich selbst zu reflektieren, beweist auch das Fehlen einer Menge von einschlägigen Wörterbüchern, die sich mit der Problematik der Dialekte befassen, von der Rechtschreibung, Grammatik Herkunft über Nachschlagewerke über Stil, Bedeutung Aussprache bis hin zu sinnverwandten Wörtern, sprachlichen Zweifelsfällen, Redewendungen, Antonymen oder Wörterbüchern mit Endreimen und sogar Anfangsreimen. Noch vor Torschluss, also dem totalen Exodus, besuchte eine Reihe von Mundartforschern Siebenbürgen, um dort die ursprünglichen Dialekte aus den Auswanderungsgebieten in Deutschland zu studieren, die sich in Siebenbürgen relativ gut konserviert hatten, über Jahrhunderte hinweg, dank der sprachlichen Inselsituation. In den Gebieten, aus denen die Auswanderer aus Deutschland ihre Dialekte nach Siebenbürgen mitgebracht hatten, waren diese längst verwässert durch den massiven Einfluss der deutschen Hochsprache und durch die Durchmischung mit anderen, benachbarten Dialekten und in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr vorhanden. Die Einwanderungsgruppen ließen sich in Siebenbürgen als jeweils kompakte Spracheinheiten nieder und kommunizierten weiter im vertrauten Dialekt, der sorgsam gepflegt wurde im Alltag in der Dorfgemeinschaft, und das nicht, zumindest anfangs, aus blindem Ehrgeiz oder falschem Stolz, sondern aus rein praktischen Gründen und aus einer Sprachgewohnheit heraus. Und da sie aus verschiedenen Dialektgebieten Deutschland kamen, passierte es, dass selbst benachbarte Dörfer sehr unterschiedliche Dialekte sprachen und oft ein Dialektsprecher des Sprecher eines anderen Dialekts gar nicht verstand, so dass man, wollte man sich überhaupt verständigen, zur Hochsprache greifen musste. Doch das Phänomen ist gar nicht alt. Wie sollte, zum Beispiel, ein plattdeutscher Mundartsprecher sich anders als über die Hochsprache mit einem Schweizer verständigen, der den Berner Dialekt spricht?

Niemand möchte jemandem ausreden, seinen eigenen Dialekt zu sprechen und zu pflegen, doch alle Wiederbelebungsversuche in dem Sinne, ihm mehr zugestehen zu wollen als ihm zusteht, sollte man besser bleiben lassen. Der Dialekt bleibt auch heute bloß das, was er schon immer war: weder ein Mythos noch eine sonderliche Extravaganz.


Aus: http://www.kulturelemente.org/hauptseite.htm