Gerhard Neweklowsky
Abstandsprachen und Ausbausprachen
Im Vielvölkerstaat Jugoslawien war das Sprachenproblem eine ständig präsente Streitfrage, schon lange vor den Sezessionsbestrebungen der späten achtziger Jahre und den Legitimationskrisen der neugebildeten Nachfolgestaaten.

In der Sprachwissenschaft unterscheiden wir zwischen der inneren und äußeren Sprachgeschichte. Unter der inneren verstehen wir die organische Entwichlung einer Sprache, z. B. die Veränderungen vom Alt- zum Neuhochdeutschen. Die äußere Sprachgeschichte hängt eng mit der geschichtlichen Entwicklung der Völker zusammen. Die politische Entwicklung bestimmt, welche Mundart zur Schrift- oder Standardsprache wird, welche äußeren Einflüsse genehm sind oder verworfen werden, welche Rechtschreibung und welches Alphabet verwendet wird. Während noch vor wenigen Jahren in Bosnien-Herzegowina so gut wie ausschließlich das lateinische Alphabet verwendet wurde, haben die Serben die kyrillische Schrift als äußeres Zeichen ihrer Sprache (wieder) eingeführt.

Die Sprachwissenschafter unterscheiden ferner zwischen Abstandsprachen und Ausbausprachen. Unter Abstandsprachen verstehen wir Sprachen, deren Abgrenzung klar ist, z. B. Deutsch gegenüber Ungarisch oder Slowenisch. Wenn wir jedoch von Slowenien über Kroatien nach Bosnien reisen und von dort weiter durch Serbien und Bulgarien bis ans Schwarze Meer, dann können wir von Dorf zu Dorf einen allmählichen Übergang zwischen den Idiomen feststellen, immer so, daß Nachbarn einander verstehen können; es gibt keine scharfen Sprachgrenzen.

Die Slowenen, die politisch zu den österreichischen Erblanden gehörten, formten ihre Schriftsprache im 16. Jahrhundert. Die Kroaten, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit verschiedene Landschaftssprachen gebrauchten, gehörten größtenteils zur ungarischen Reichshälfte (Dalmatien schwankte zwischen Venetien und Osterreich). Die Serben waren zwischen Südungarn (Vojvodina) und dem Osmanischen Reich aufgeteilt, Bosnien gehörte seit dem 15. Jahrhundert ebenfalls zur Türkei. So entstanden auf einem Gebiet, das sprachlich nur kontinuierliche Übergänge kennt, verschiedene sprachliche Traditionen.

Die Herausbildung einer gemeinsamen serbokroatischen (kroato-serbischen) Schriftsprache im 19. Jahrhundert hatte politische Ursachen. Der Wiener Hofzensor Bartholomäus Kopitar, Anhänger des Austroslawismus, bestärkte ab 1813 Vuk Karadzic in der Einführung der serbischen Volkssprache als Schriftsprache anstatt der bisherigen russifizierten. Die Verwendung des veränderten kyrillischen Alphabets verhindert bis heute den Gebrauch einer russischen Schreibmaschine für das Serbische. Die Kroaten beschlossen, ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts jene Form ihrer Sprache, die dem neuen Serbischen am nächsten stand, zur Schriftsprache zu erheben, denn auf diese Weise war eine Vereinigung aller Kroaten wenigstens sprachlich möglich. Das Ziel blieb freilich die politische Vereinigung, die 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auch erreicht wurde. Die politische Vereinigung konnte freilich den Wunsch nach Bewahrung der jeweiligen nationalen Identität nicht verdecken. Die nationale Identität war eine kulturelle und religiöse, sie entsprach der Zugehörigkeit zum katholischen, orthodoxen und islamischen Kulturkreis. So kam es schließlich besonders unter den Kroaten zu dem Wunsch, die sprachlichen Unterschiede, die bisher als Varianten galten, zu vergrößern, um sich in nationaler Hinsicht zu konsolidieren und deutlicher abzugrenzen. Diesem Beispiel folgten in neuester Zeit auch die bosnischen Muslime. So ist es heute zu einer Teilung in drei Sprachen gekommen, die keineswegs durch die innere Sprachgeschichte bedingt ist, sondern durch den unterschiedlichen Sprachausbau.


Aus: Vorwort in Miloš Okuka »Eine Sprache viele Erben«, Klagenfurt/Celovec 1998