(...) Im ersten Halbjahr 1994 beschlossen Kammer
und Senat in Frankreich die loi Toubon. Der Kern des Gesetzes ist der
Art. 1, der sich durch das ganze Normenwerk durchzieht: »Der Rückgriff
auf jede fremde Bezeichnung (terme etranger) oder jeden fremden Ausdruck
(expression etrangere) ist verboten, wenn es einen französischen
Ausdruck oder eine französische Bezeichnung desselben Sinnes gibt,
insbesondere einen Ausdruck oder eine Bezeichnung, die im Reglement bezüglich
der Bereicherung der französischen Sprache gebilligt wurden.«
Diese Vorschrift kann in Ankündigungen und öffentlichen Hinweisen
(etwa in Verkehrsmitteln), in Verträgen allgemein (Art. 4) und in
Arbeitsverträgen im besonderen (Art. 6), aber auch im Unterricht
sowie bei Prüfungen und Wettbewerben (Art. 9) und sogar für
Markennamen durchgesetzt werden. Polizei und Justizbeamte dürfen,
auch unter Mißachtung des Hausrechtes, kontrollieren. Zuwiderhandlungen
können mit Gefängnis bis 6 Monate und Geldstrafen bis 50.000
ffr. geahndet werden (Art. 15). In den audiovisuellen Medien ist der Gebrauch
des Französischen vorgeschrieben (wie ist das mit Kabel-TV?). Auch
auf wissenschaftlichen Kongressen ist der Gebrauch des Französischen
obligat, die Programme müssen in Französisch erscheinen, die
Papiere zumindest eine französische Zusammenfassung haben (Art. 5).
Um dies durchzusetzen, erschien im Rahmen des Amtsund Gesetzblattes (!),
des »Journal Officiel de la Republique Francaise« ein »Dictionnaire
des termes officiels de la langue franc,aise« im Umfang von 464
Seiten. Brainstorming heißt dort remue-meninges, der Sponsor wurde
zum parrai-neur, etc. »Im Mutterland des Französischen hat
aber die Jugend inzwischen eine neue Umgangssprache ... Die eigentliche
Sprachschlacht müßte also in einem Bereich stattfinden, auf
dem die offizielle Regelung nur ein von vomeherein verlorenes Rückzugsgefecht
liefern kann« (NZZ, 9. Juni 1994: Wirbel um ein Wörterbuch).
Die französische Regierung betrachtet offenbar das Französische
als Minderheitensprache. Diese nunmehr gültige Rechtsnorm ist somit
ein Musterbeispiel für eine bestimmte Art der Problemwahrnehmung,
welche die anstehende Lage völlig verzerrt. Dementsprechend untauglich
ist dann auch das Mittel, das eigentliche Problem anzugehen und zu bewältigen.
Das Gesetz beinhaltet Schutzmaßnahmen, wie sie für Minderheiten-Situationen
bisweilen versucht werden. Es kommt im übrigen häufig vor, daß
sich die Mehrheit wie eine Minderheit wahrnimmt. Das war und ist teilweise
bis in die Gegenwart auch eine nicht unwesentliche Facette des Kärntner
Konfliktes. Insbesondere auch gegenüber der Ebene des Bundes, welche
schließlich erst recht von Vertretern der Mehrheit repräsentiert
wird, die jedoch den Kleinkrieg in Kärnten mit etwas mehr Abstand
betrachten, gaben und geben sich »Deutschkärntner« oft
wie eine verfolgte Minderheit.
Der Conseil Constitutionel, eine Art Verfassungsgerichtshof, hat einige
besonders weitgehende Vorschriften (insbesondere die obligaten Sprachregelungen
für Private) als verfassungswidrig aufgehoben, sodaß das Gesetz
in neuer Fassung verlautbart werden mußte (loi n 94-665 du 4 aoüt
1994 relative ä l'emploi de la langue francaise).
Worin besteht nun die reale Grundlage der Wahrnehmung des Französischen
als bedroht, als »Minderheitensprache«? Die Struktur der Weltgesellschaft
mit ihrem angloamerikani-schen Kern droht Frankreich oder zumindest Teile
des Landes tatsächlich zu peripherisieren. Damit ist aber auch schon
gesagt, daß mit einer absolutistischen Sprachenpolitik kaum etwas
erreicht werden kann. Dringlicher wäre wohl eine selbstbewußte
Außen- und Wirtschaftspolitik. Doch weder die derzeitige konservative
noch die abgelöste sozialistische Regierung sind oder waren dazu
bereit.
Wenn hochentwickelte Staaten des Westens derart irrational agieren, ist
es nicht verwunderlich, daß die nationalistischen Regime der neuen
Staaten des Ostens hier nicht nachstehen. Wir finden im lettischen Sprachengesetz
exakt dieselbe Haltung wie in der loi Toubon, nur daß sie sich in
Lettland gegen eine Minderheit in den eigenen Grenzen richtet. Die lettische
Mehrheit nimmt sich auch nach der Unabhängigkeit noch immer als Minderheit
wahr und diskriminiert aufs schwerste die größte Minderheit,
die Russen. Schlimmer als das Sprachengesetz ist hier übrigens die
politische Entrechtung durch Entzug der Staatsbürgerschaft für
ein gutes Fünftel der Gesamtbevölkerung. Während also der
Art. 15 die Liven als schützenswerte Minderheit einstuft und Art.
14 sogar die latgalische Schriftsprache (Die Latgaler (Latgallier) besiedelten
im 9. Jahrhundert das nordöstliche Gebiet des heutigen Lettlands
und werden von den Letten als Vorfahren in Anspruch genommen.) schützen
will, erwähnt der Art. 9 das Russische nur in einer Reihe mit Englisch
und Deutsch, somit als Fremdsprache. Hier ist es nützlich, in Erinnerung
zu rufen: Nach der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 waren von
der Gesamtbevölkerung (2,667.000 Personen) ein gutes Drittel Russen
(906.000 Personen). Als Liven scheinen rund 100 (hundert) Einwohner auf
... In der Präambel des Gesetzes spricht man zwar vom »Respekt«
gegenüber den anderen Sprachen. Das hindert jedoch nicht, besonders
sensible Bereiche anzurühren: Der Art. 18 bestimmt: »Ausländische
Vor- und Eigennamen müssen in Lettisch geschrieben und in Übereinstimmung
mit den Regeln für die Übertragung von Vor- und Eigennamen anderer
Sprachen ins Lettische benutzt werden.« Man erinnert sich: Der Europarat
hat der Slowakischen Republik als Bedingung für die Aufnahme den
Verzicht auf eine ähnliche, gegen die Ungarn gerichtete Bestimmung
auferlegt. Die Slowakei kam dem nach. Die lettische Republik hingegen
kann in dieser und in noch viel schlimmerer anderer Weise einen Teil ihrer
Bevölkerung diskriminieren, ohne daß der Europarat oder die
angeblich sosehr auf die Menschenrechte bedachten westlichen Staaten Laut
geben. Der Europarat, einmal der Hort der Menschenrechte, hat seine politische
Unschuld mittlerweilen verloren, sei es diesen Staaten gegenüber
oder gegenüber der wieder einmal Genocid verübenden Türkei.
Eine Folgerung drängt sich auf: Im Interesse des Minderheitenschutzes
müßte auf die Festlegung von »National-« oder »Staatssprachen«
in Verfassungsurkunden verzichtet werden. Sie werden praktisch immer zur
Diskriminierung von Minderheiten benutzt. Der pragmatischen Erfordernis
nach einer oder einigen wenigen Amtssprachen läßt sich auch
ohne die symbolträchtige und stets exklusive Bezeichnung einer Sprache
als »Nationalsprache« nachkommen. Dies zeigt sich in der Schweiz.
Aus Symbolgründen wurden vier Nationalsprachen festgelegt. Doch als
Amtssprachen galten bis vor kurzem nur drei davon. Mittlerweile ist allerdings
im Entwurf des neuen Sprachenartikels (Abs. 4) auch das Rätoromanische
als Amtsprache im Umgang mit den Rätoromanen genannt.
Das Schweizerische Bundesgericht z. B. entschied, daß der Gemeindevorstand
von Disentis zu Recht von der Zürcher Versicherungsgesellschaft romanische
Aufschriften und Anzeigen verlangt habe, zu denen allerdings eine deutsche
Version gefügt werden könne (NZZ, 10. Feber 1994: Pflicht zur
rätoromanischen Firmenbezeichnung). »Der Sprachenartikel [der
Schweizer Verfassung] gewährleistet die überkommene sprachliche
Zusammensetzung des Landes. Den Kantonen ist es danach gestattet, Maßnahmen
zu ergreifen, um die überlieferten Grenzen der Sprachgebiete und
deren Homogenität zu bewahren ... Angesichts der Bedrohung des von
Art. 116 Abs. 1 der BV als Nationalsprache anerkannten Rätoromanischen
hat das Bundesgericht schon früher ein ganz erhebliches öffentliches
Interesse an der Erhaltung der rätoromanischen Sprachregionen in
ihrer Ausdehnung wie Homogenität anerkannt.«
Für diese Zwecke hat die Schweiz ein Prinzip formuliert, welches
sie das »Territorialprinzip« nennt. Es ist im Prinzip das
Einfrieren von Sprachgrenzen auf den Stand einer Zeit, bevor die großen
Modernisierungsprozesse auch die Prozesse des Identitätswechsels
zu beinflussen begannen. Das Prinzip ist einfach und soll schlicht das
Aufkommen von Sprachkämpfen behindern, was es zum guten Teil auch
geleistet hat. Es kommt allerdings bisweilen mit dem zweiten Prinzip der
Schweizer Sprachpolitik in Konflikt, der sogenannten »Sprachfreiheit«
(vgl. als jüngsten Fall: »Aus dem Bundesgericht - Sprachenfreiheit
gegen Territorialitätsprinzip«. NZZ, 4. Mai 1995).
1.5.1.2 Symbol und Kommunikation
Das nationale Symbol der Hochsprache darf also nicht mit dem Prinzip der
Nation selbst verwechselt werden. Aus diesem geläufigen Irrtum entstanden
groteske Situationen. Weil die Norweger sich von den Schweden, mit denen
sie im 19. Jahrhundert staatlich verbunden waren, national und staatlich
absetzen wollten, glaubten manche von ihnen, jetzt müßten sie
auch eine eigene neue Sprache entwickeln: Das Bokmäl oder Riksmäl
kann man linguistisch durchaus als dänischen Dialekt auffassen. So
wurde das Nynorsk (»Neunorwegisch«) geschaffen. Noch heute
spricht eine ansehnliche
Minderheit, etwa eine halbe Million vor allem im Süden des Landes,
diese Sprache und lernt sie auch in der Schule {Aarebrot 1982). Der Großteil
spricht das alte norwegische Dänisch, das sich allerdings ständig
weiter vom Hochdänischen entfernt.
Eine moderne Version des Sprachproblems ist das Faktum, daß Abkömmlinge
von Immigranten in den USA meist schon in der zweiten Generation die Muttersprache
ihrer Vorfahren nicht mehr beherrschen oder sie zumindest nicht benützen,
auch nicht als Familiensprache. Trotzdem bleibt über Generationen
hinweg das Bewußtsein einer unterschiedlichen eigenen ethnischen
Identität erhalten. Damit endet aber die Funktion der Sprache als
ethnisches Grenzziehungsmerkmal. Gerade weil die Sprache Grenzziehungskriterium
und darüber hinaus Symbol ethnonationaler Machtausübung war
und ist, konzentrieren sich die nationalen Kämpfe so häufig
auf Sprachfragen. Wenn Minderheiten den Bilingualismus, und zwar natürlich
nicht den eigenen, sondern auch den der Mehrheit zu ihrem Schwerpunkt
machen, so bedeutet dies nichts anderes, als daß sie ihre Minderheitensituation
aufheben wollen; daß die Mehrheit auf ihren politischen Status als
ethnische Mehrheit verzichten soll. Dementsprechend wütend ist denn
auch die Ablehnung dieses Ansinnens seitens chauvinistischer Kreise der
Mehrheit, ob in Triest, in der Südslowakei oder in Kärnten.
Das Gegenprojekt und Gegensymbol dieser Mehrheit ist dann die einzige
»Nationalsprache«, meistens in der Form einer allein zugelassenen
Amtssprache.
Die kommunikationstheoretische Sicht der Nation stellt auf den Kommunikationsverbund
ab. Dieser kann in einer modernen Gesellschaft nur mehr über Medien,
die Massenkommunikationsmittel hergestellt werden. Dabei spielt in der
Gegenwart das Medium Fernsehen eine erstrangige Rolle. Allein aus Kostengründen
können nur mehr wenige Großgesellschaften bzw. ihre Staaten
ein »nationales« Fernsehen halten. Bedeutet dies, daß
Fernsehen und sein Konsum tatsächlich internationalisiert? Das scheint
ein bißchen vereinfacht gesehen. Die Programme im Unterschied zu
ihren Bestandteilen werden nach wie vor weitgehend national erstellt.
International produzierte Inhalte werden so in nationale Programme eingebaut
und damit auch nationalisiert. Das klingt zuerst wie ein rein formales
Argument. Doch das Vorgehen entspricht dem, was beim Nationen-Aufbau immer
geschah und geschieht: Die »modernen« Inhalte (die Kultur)
sind gleich, bekommen aber eine nationale Fassade. Manchmal geschieht
dies allein dadurch, daß eine Ansagerin eines nationalen Programmes
dieses den Zusehern präsentiert. Möglicherweise ändert
das Kabelnetz hieran etwas: Die Inhalte werden tatsächlich als international
erkennbar.
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