Albert F. Reiterer
Sprachpolitik heute und ihre Abwege

(...) Im ersten Halbjahr 1994 beschlossen Kammer und Senat in Frankreich die loi Toubon. Der Kern des Gesetzes ist der Art. 1, der sich durch das ganze Normenwerk durchzieht: »Der Rückgriff auf jede fremde Bezeichnung (terme etranger) oder jeden fremden Ausdruck (expression etrangere) ist verboten, wenn es einen französischen Ausdruck oder eine französische Bezeichnung desselben Sinnes gibt, insbesondere einen Ausdruck oder eine Bezeichnung, die im Reglement bezüglich der Bereicherung der französischen Sprache gebilligt wurden.« Diese Vorschrift kann in Ankündigungen und öffentlichen Hinweisen (etwa in Verkehrsmitteln), in Verträgen allgemein (Art. 4) und in Arbeitsverträgen im besonderen (Art. 6), aber auch im Unterricht sowie bei Prüfungen und Wettbewerben (Art. 9) und sogar für Markennamen durchgesetzt werden. Polizei und Justizbeamte dürfen, auch unter Mißachtung des Hausrechtes, kontrollieren. Zuwiderhandlungen können mit Gefängnis bis 6 Monate und Geldstrafen bis 50.000 ffr. geahndet werden (Art. 15). In den audiovisuellen Medien ist der Gebrauch des Französischen vorgeschrieben (wie ist das mit Kabel-TV?). Auch auf wissenschaftlichen Kongressen ist der Gebrauch des Französischen obligat, die Programme müssen in Französisch erscheinen, die Papiere zumindest eine französische Zusammenfassung haben (Art. 5).
Um dies durchzusetzen, erschien im Rahmen des Amtsund Gesetzblattes (!), des »Journal Officiel de la Republique Francaise« ein »Dictionnaire des termes officiels de la langue franc,aise« im Umfang von 464 Seiten. Brainstorming heißt dort remue-meninges, der Sponsor wurde zum parrai-neur, etc. »Im Mutterland des Französischen hat aber die Jugend inzwischen eine neue Umgangssprache ... Die eigentliche Sprachschlacht müßte also in einem Bereich stattfinden, auf dem die offizielle Regelung nur ein von vomeherein verlorenes Rückzugsgefecht liefern kann« (NZZ, 9. Juni 1994: Wirbel um ein Wörterbuch).
Die französische Regierung betrachtet offenbar das Französische als Minderheitensprache. Diese nunmehr gültige Rechtsnorm ist somit ein Musterbeispiel für eine bestimmte Art der Problemwahrnehmung, welche die anstehende Lage völlig verzerrt. Dementsprechend untauglich ist dann auch das Mittel, das eigentliche Problem anzugehen und zu bewältigen. Das Gesetz beinhaltet Schutzmaßnahmen, wie sie für Minderheiten-Situationen bisweilen versucht werden. Es kommt im übrigen häufig vor, daß sich die Mehrheit wie eine Minderheit wahrnimmt. Das war und ist teilweise bis in die Gegenwart auch eine nicht unwesentliche Facette des Kärntner Konfliktes. Insbesondere auch gegenüber der Ebene des Bundes, welche schließlich erst recht von Vertretern der Mehrheit repräsentiert wird, die jedoch den Kleinkrieg in Kärnten mit etwas mehr Abstand betrachten, gaben und geben sich »Deutschkärntner« oft wie eine verfolgte Minderheit.
Der Conseil Constitutionel, eine Art Verfassungsgerichtshof, hat einige besonders weitgehende Vorschriften (insbesondere die obligaten Sprachregelungen für Private) als verfassungswidrig aufgehoben, sodaß das Gesetz in neuer Fassung verlautbart werden mußte (loi n 94-665 du 4 aoüt 1994 relative ä l'emploi de la langue francaise).
Worin besteht nun die reale Grundlage der Wahrnehmung des Französischen als bedroht, als »Minderheitensprache«? Die Struktur der Weltgesellschaft mit ihrem angloamerikani-schen Kern droht Frankreich oder zumindest Teile des Landes tatsächlich zu peripherisieren. Damit ist aber auch schon gesagt, daß mit einer absolutistischen Sprachenpolitik kaum etwas erreicht werden kann. Dringlicher wäre wohl eine selbstbewußte Außen- und Wirtschaftspolitik. Doch weder die derzeitige konservative noch die abgelöste sozialistische Regierung sind oder waren dazu bereit.
Wenn hochentwickelte Staaten des Westens derart irrational agieren, ist es nicht verwunderlich, daß die nationalistischen Regime der neuen Staaten des Ostens hier nicht nachstehen. Wir finden im lettischen Sprachengesetz exakt dieselbe Haltung wie in der loi Toubon, nur daß sie sich in Lettland gegen eine Minderheit in den eigenen Grenzen richtet. Die lettische Mehrheit nimmt sich auch nach der Unabhängigkeit noch immer als Minderheit wahr und diskriminiert aufs schwerste die größte Minderheit, die Russen. Schlimmer als das Sprachengesetz ist hier übrigens die politische Entrechtung durch Entzug der Staatsbürgerschaft für ein gutes Fünftel der Gesamtbevölkerung. Während also der Art. 15 die Liven als schützenswerte Minderheit einstuft und Art. 14 sogar die latgalische Schriftsprache (Die Latgaler (Latgallier) besiedelten im 9. Jahrhundert das nordöstliche Gebiet des heutigen Lettlands und werden von den Letten als Vorfahren in Anspruch genommen.) schützen will, erwähnt der Art. 9 das Russische nur in einer Reihe mit Englisch und Deutsch, somit als Fremdsprache. Hier ist es nützlich, in Erinnerung zu rufen: Nach der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 waren von der Gesamtbevölkerung (2,667.000 Personen) ein gutes Drittel Russen (906.000 Personen). Als Liven scheinen rund 100 (hundert) Einwohner auf ... In der Präambel des Gesetzes spricht man zwar vom »Respekt« gegenüber den anderen Sprachen. Das hindert jedoch nicht, besonders sensible Bereiche anzurühren: Der Art. 18 bestimmt: »Ausländische Vor- und Eigennamen müssen in Lettisch geschrieben und in Übereinstimmung mit den Regeln für die Übertragung von Vor- und Eigennamen anderer Sprachen ins Lettische benutzt werden.« Man erinnert sich: Der Europarat hat der Slowakischen Republik als Bedingung für die Aufnahme den Verzicht auf eine ähnliche, gegen die Ungarn gerichtete Bestimmung auferlegt. Die Slowakei kam dem nach. Die lettische Republik hingegen kann in dieser und in noch viel schlimmerer anderer Weise einen Teil ihrer Bevölkerung diskriminieren, ohne daß der Europarat oder die angeblich sosehr auf die Menschenrechte bedachten westlichen Staaten Laut geben. Der Europarat, einmal der Hort der Menschenrechte, hat seine politische Unschuld mittlerweilen verloren, sei es diesen Staaten gegenüber oder gegenüber der wieder einmal Genocid verübenden Türkei.
Eine Folgerung drängt sich auf: Im Interesse des Minderheitenschutzes müßte auf die Festlegung von »National-« oder »Staatssprachen« in Verfassungsurkunden verzichtet werden. Sie werden praktisch immer zur Diskriminierung von Minderheiten benutzt. Der pragmatischen Erfordernis nach einer oder einigen wenigen Amtssprachen läßt sich auch ohne die symbolträchtige und stets exklusive Bezeichnung einer Sprache als »Nationalsprache« nachkommen. Dies zeigt sich in der Schweiz. Aus Symbolgründen wurden vier Nationalsprachen festgelegt. Doch als Amtssprachen galten bis vor kurzem nur drei davon. Mittlerweile ist allerdings im Entwurf des neuen Sprachenartikels (Abs. 4) auch das Rätoromanische als Amtsprache im Umgang mit den Rätoromanen genannt.

Das Schweizerische Bundesgericht z. B. entschied, daß der Gemeindevorstand von Disentis zu Recht von der Zürcher Versicherungsgesellschaft romanische Aufschriften und Anzeigen verlangt habe, zu denen allerdings eine deutsche Version gefügt werden könne (NZZ, 10. Feber 1994: Pflicht zur rätoromanischen Firmenbezeichnung). »Der Sprachenartikel [der Schweizer Verfassung] gewährleistet die überkommene sprachliche Zusammensetzung des Landes. Den Kantonen ist es danach gestattet, Maßnahmen zu ergreifen, um die überlieferten Grenzen der Sprachgebiete und deren Homogenität zu bewahren ... Angesichts der Bedrohung des von Art. 116 Abs. 1 der BV als Nationalsprache anerkannten Rätoromanischen hat das Bundesgericht schon früher ein ganz erhebliches öffentliches Interesse an der Erhaltung der rätoromanischen Sprachregionen in ihrer Ausdehnung wie Homogenität anerkannt.«
Für diese Zwecke hat die Schweiz ein Prinzip formuliert, welches sie das »Territorialprinzip« nennt. Es ist im Prinzip das Einfrieren von Sprachgrenzen auf den Stand einer Zeit, bevor die großen Modernisierungsprozesse auch die Prozesse des Identitätswechsels zu beinflussen begannen. Das Prinzip ist einfach und soll schlicht das Aufkommen von Sprachkämpfen behindern, was es zum guten Teil auch geleistet hat. Es kommt allerdings bisweilen mit dem zweiten Prinzip der Schweizer Sprachpolitik in Konflikt, der sogenannten »Sprachfreiheit« (vgl. als jüngsten Fall: »Aus dem Bundesgericht - Sprachenfreiheit gegen Territorialitätsprinzip«. NZZ, 4. Mai 1995).

1.5.1.2 Symbol und Kommunikation
Das nationale Symbol der Hochsprache darf also nicht mit dem Prinzip der Nation selbst verwechselt werden. Aus diesem geläufigen Irrtum entstanden groteske Situationen. Weil die Norweger sich von den Schweden, mit denen sie im 19. Jahrhundert staatlich verbunden waren, national und staatlich absetzen wollten, glaubten manche von ihnen, jetzt müßten sie auch eine eigene neue Sprache entwickeln: Das Bokmäl oder Riksmäl kann man linguistisch durchaus als dänischen Dialekt auffassen. So wurde das Nynorsk (»Neunorwegisch«) geschaffen. Noch heute spricht eine ansehnliche
Minderheit, etwa eine halbe Million vor allem im Süden des Landes, diese Sprache und lernt sie auch in der Schule {Aarebrot 1982). Der Großteil spricht das alte norwegische Dänisch, das sich allerdings ständig weiter vom Hochdänischen entfernt.
Eine moderne Version des Sprachproblems ist das Faktum, daß Abkömmlinge von Immigranten in den USA meist schon in der zweiten Generation die Muttersprache ihrer Vorfahren nicht mehr beherrschen oder sie zumindest nicht benützen, auch nicht als Familiensprache. Trotzdem bleibt über Generationen hinweg das Bewußtsein einer unterschiedlichen eigenen ethnischen Identität erhalten. Damit endet aber die Funktion der Sprache als ethnisches Grenzziehungsmerkmal. Gerade weil die Sprache Grenzziehungskriterium und darüber hinaus Symbol ethnonationaler Machtausübung war und ist, konzentrieren sich die nationalen Kämpfe so häufig auf Sprachfragen. Wenn Minderheiten den Bilingualismus, und zwar natürlich nicht den eigenen, sondern auch den der Mehrheit zu ihrem Schwerpunkt machen, so bedeutet dies nichts anderes, als daß sie ihre Minderheitensituation aufheben wollen; daß die Mehrheit auf ihren politischen Status als ethnische Mehrheit verzichten soll. Dementsprechend wütend ist denn auch die Ablehnung dieses Ansinnens seitens chauvinistischer Kreise der Mehrheit, ob in Triest, in der Südslowakei oder in Kärnten. Das Gegenprojekt und Gegensymbol dieser Mehrheit ist dann die einzige »Nationalsprache«, meistens in der Form einer allein zugelassenen Amtssprache.
Die kommunikationstheoretische Sicht der Nation stellt auf den Kommunikationsverbund ab. Dieser kann in einer modernen Gesellschaft nur mehr über Medien, die Massenkommunikationsmittel hergestellt werden. Dabei spielt in der Gegenwart das Medium Fernsehen eine erstrangige Rolle. Allein aus Kostengründen können nur mehr wenige Großgesellschaften bzw. ihre Staaten ein »nationales« Fernsehen halten. Bedeutet dies, daß Fernsehen und sein Konsum tatsächlich internationalisiert? Das scheint ein bißchen vereinfacht gesehen. Die Programme im Unterschied zu ihren Bestandteilen werden nach wie vor weitgehend national erstellt. International produzierte Inhalte werden so in nationale Programme eingebaut und damit auch nationalisiert. Das klingt zuerst wie ein rein formales Argument. Doch das Vorgehen entspricht dem, was beim Nationen-Aufbau immer geschah und geschieht: Die »modernen« Inhalte (die Kultur) sind gleich, bekommen aber eine nationale Fassade. Manchmal geschieht dies allein dadurch, daß eine Ansagerin eines nationalen Programmes dieses den Zusehern präsentiert. Möglicherweise ändert das Kabelnetz hieran etwas: Die Inhalte werden tatsächlich als international erkennbar.


Aus: Albert F. Reiterer, Kärntner Slowenen: »Minderheit oder Elite? Neuere Tendenzen der ethnischen Arbeitsteilung.«, Klagenfurt/Celovec 1996