Mutter-Sprache
In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?

Abends, wenn der Tag zu Ende geht,
und träumeschwer dein Kopf in meine Arme fällt,
steigt ein Wiegenlied aus meinem Herzen,
blüht auf in meinem Mund – in meiner alten Sprache.

Das Holzpferd meiner Kindheit
wiegt einen Mond für dich in meinen Armen:
Wir gehen schlafen.

Morgens, noch voll von Träumen in der alten Sprache,
hole ich die Herbstnachrichten.
Die neue Sprache rüttelt mich jetzt wacht
Machtwechsel über Nacht – Atomreaktoren – Ausländer rausl

Wo gehöre ich denn hin?
Bin ich noch immer fremd in diesem Land?
Eingelebt habe ich mich, um hier zu leben –
gehört zu dem Entschluß nicht auch das Wort?

In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?

Ich begrüße den Nachbarn auf der Straße
jeden Tag in dieser neuen Sprache,
das Brot hole ich auf Deutsch in unser Haus,
... und du bist hier geboren!
Hat das nicht Konsequenzen für die Seele?

In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?

Langsam stirbt der Herbst unter dem Kinderwagen.
So zerfällt mir meine Kindheitssprache,
sie ist alt geworden in dem neuen Land,
während auf meinen Lippen die neue Sprache lebt.

Sie hat das Recht des Alltags sich erkämpft,
und während selbstvergessen die alte schlummert,
wacht aufmerksam die neue über die Gegenwart,
und ungeduldig fällt sie mir ins Wort.
Welche der beiden Sprachen wird die deine sein?

In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen?
Das Selbstverständliche ist in mir
langsam strittig geworden.
Was früher natürlich war,
bleibt jetzt im Halse stecken.

Der Seiltanz zwischen beiden Welten
will mir nicht mehr gelingen ...
Ich verliere das Wort
und falle
ins
Schweigen.

Guadalupe Bedregal
aus: I. ACKERMANN (Hrsg.): In zwei Sprachen leben, 1983)